ÜBER NATIONALISMUS UND STAATSGRÜNDUNGEN Nation Nationalismus Patriotismus Heimatliebe Bürgerkrieg
Krieg Ausländerfeindlichkeit Skinheads Eine Erscheinung beunruhigt die Gemüter, die angeblich
als überwunden galt, geistesgeschichtlich im vorigen Jahrhundert
und politisch bei Extremisten und Querulanten angesiedelt wurde: Nationalismus
macht sich breit in Europa, wird mit Lichterketten und frommen Wünschen
bzw. ernsten Warnungen bekämpft und soll, glaubt man den Kommentaren,
so etwas Ähnliches sein wie eine Seuche, gegen die es keine Impfung gibt,
sondern nur recht viel Aufklärung. In anderen Teilen der Welt
ruft diese in diesem Falle teilweise wohlwollend kommentierte
Haltung wiederum Grenzveränderungen hervor, die ansonsten das Ergebnis
von Kriegen sind. Im Folgenden einige Überlegungen dazu, was der Begriff
Nationalismus eigentlich bedeutet und beinhaltet. Mit dem Eintreten für die Sache der Nation ist natürlich
auch ein grundlegendes Einverständnis in das Prinzip der staatlichen
Herrschaft gegeben. Denn aus dem existierenden Staat ist das ganze Konstrukt
der Nation abgeleitet und nur an seinen Momenten läßt es sich bebildern
und mit Inhalt füllen. Eine Nation braucht ein Staatsgebiet, also auch
Grenzen, sie braucht Agenten und eine Vertretung nach außen, also Regierung
und Diplomatie, die Erinnerung an sie will gepflegt werden, also sind Bildungsanstalten
und einen Kulturbetrieb einzurichten. Existieren diese Dinge alle, so ist das
wieder ein Beweis für die Existenz und das Recht dieser Nation.
Das nationale Wir versöhnt Gegensätze
im Inneren und schafft einen neuen: nach außen In dieser Haltung kommt die tatsächliche Stellung des
Staatsbürgers, sein Eingebunden-Sein in alle möglichen Sachzwänge
des Arbeitens und Geldverdienens, seine Stellung als Mieter, Untergebener, Erziehungsberechtigter,
zwar vor, aber in sehr eigentümlicher Form. Diese Momente seiner Existenz,
des Sich-Bewährens in der Konkurrenz gegen andere, treten als Chancen auf,
die es zu nützen gilt. So, als stelle sein Dasein als Bürger eines
kapitalistischen Staates eine Fülle von Möglichkeiten dar, die er
nur für sich nützen müßte. Er wird zwar immer auf
die harte Tatsache gestoßen, daß dem nicht so ist und die Möglichkeiten
sehr begrenzt sind. Wenn jedoch seine Berechnungen nicht aufgehen was
ja nicht selten vorkommt so erschüttert das nicht seinen Glauben
an die prinzipielle Benutzbarkeit der Klassengesellschaft für sich,
sondern er macht ein Mißverhältnis, einen Mißstand institutioneller oder personeller Natur dingfest, der seine Pläne
zunichte macht. Gegen diesen Mißstand soll dann die übergeordnete
Gewalt einschreiten so, als sei sie sein Agent und nicht umgekehrt
er der ihr Unterworfene. Bei allen Beschwerden ist diesem Bürger also seine
Staatsgewalt das ideelle Mittel seines Fortkommens, für dessen Funktionieren
er sich aus diesem Grunde stark macht. Die in einer Demokratie herrschende zivile Sphäre
des Geschäfts- und Privatlebens leistet dieser Trennung zwischen dem, was
gilt und dem, was man gerne hätte, unzweifelhaft Vorschub. Der Alltag des
Staatsbürgers, Arbeiten, Einkaufen, Familienleben, wird als sozusagen natürliche
Lebensform interpretiert, zu der der Staat sich lediglich ordnend und regulierend
verhält. Das ist zwar eine gewisse Verharmlosung, denn Privateigentum,
Geld und Eherecht gibt es nur deshalb, weil es durch die Staatsgewalt eingerichtet
und aufrechterhalten wird. Wenn sein solchermaßen gestaltetes Alltagsleben
jedoch in Frage gestellt wird, durch Arbeitslosigkeit oder Verarmung, besinnt
sich der mündige Bürger gerne auf den Umstand, daß die Staatsgewalt
die erste und oberste Bedingung seines Fortkommens ist und daß zu allererst
sie als solche gestärkt gehört. Ein solcher Mensch würde sich jedoch im allgemeinen nicht
dazu bekennen, Nationalist zu sein. Gott bewahre! Er weiß, und
die Wissenschaft assistiert ihm dabei, die feine Unterscheidung zu treffen zwischen
gutem Patriotismus, nationaler Identität, Heimatverbundenheit und Traditionsbewußtsein
einerseits und dem abzulehnenden Pfui-Nationalismus andererseits. Diese Unterscheidung
ist jedoch keine des Inhalts, denn der ist bei beiden Haltungen der gleiche
die Unterordnung unter die staatliche Gewalt wird anerkannt und begrüßt
, sondern eine der Funktionalität für das Staatswesen,
dem sie dient. Solange die positive Einstellung zur eigenen Herrschaft sich
in den vorgesehenen Bahnen bewegt, die Bürger wählen und arbeiten
gehen und sich nach getanem Tagwerk am Stammtisch eine Meinung darüber
leisten, wer jetzt wieder was in Staat und Wirtschaft verpatzt hat, solange
ist alles in Ordnung. In diesem Falle dient diese Haltung der Stabilität
eines Staatswesens, leistet ihren Beitrag dazu, daß die Menschen sich
fügen und eine willfährige Basis für das bilden, was die
zuständigen Politiker ihnen auferlegen. Das ideelle Konstrukt einer über allen stehenden Rechtspersönlichkeit, der Nation, der die Politiker ebenso dienen wie der Straßenkehrer, schließt es jedoch in sich, daß ein oder das andere Individuum sein Zukurzkommen so interpretiert, daß die Regierenden im Unterschied zu ihm ihre Pflicht vernachlässigen und dadurch die Grundfesten des Staates ins Wanken geraten. So kommt es, daß einige unzufriedene Staatsbürger den Entschluß fassen, praktisch zu werden, um Schlimmeres zu verhindern. Sie meinen, die Politik an ihre eigentliche Pflicht erinnern zu müssen: Der Nation dienen heißt dann eben, daß die Politik ihre Segnungen nur den echten Volksgenossen, Uns, zuteil werden lassen darf. Da werden dann Ausländer verprügelt und Asylantenheime angezündet, und aus dem Verständnis, das solchen Faschisten von Soziologen und Politikern bei aller Kritik entgegengebracht wird, verrät sich noch einmal das Bewußtsein, daß hier eine an und für sich ehrenwerte Geisteshaltung vorliegt, die nur ein wenig auf die schiefe Bahn geraten ist.
Partikularer Nationalismus ist nicht gleich
staatenbildend Die Trennung vom Staat in 2 Teile: einen ideellen, der immer gut ist und immer wirkt, die Nation; und einen realen den
Staat als Ausdruck der Nation, an dem man auch hin und wieder was auszusetzen
hat diese herrschaftsdienliche Trennung führt auch zu einer anderen
Sorte von Aufruhr. Angehörige von vermeintlich oder wirklich unterdrückten
Minderheiten haben aus ihrer Lage den Schluß gezogen, daß der gegenwärtige
Staat nicht die Verkörperung ihrer Nation darstellt, daß daher
die Ursache ihres Leids die Fremdherrschaft ist und daß die Lösung
des Problems nur in einer eigenen Herrschaft liegen kann, daß also
unbedingt ein eigener Staat her muß. Nach Kriegen, wenn die Einflußsphären
neu verteilt werden, hat so ein Standpunkt manchmal auch recht und einen eigenen
Staat bekommen, weil es im Interesse einer Siegernation lag, die Verlierer zu
schwächen, so im Falle Polens oder der Tschechoslowakei nach dem ersten
Weltkrieg. Ist ein solches Interesse von außen nicht gegeben, so
sind dergleichen Bestrebungen, wie die der Kurden, Palästinenser oder der
ETA ein Fall für die nationalen Geheimdienste und die internationale Polizei,
sonst nichts. Die höchste Wertschätzung, die sie erfahren, ist die,
daß sie manchmal zur Erpressung eines mißliebigen Staates durch
einflußreiche Mächte dienen. Das stellt allerdings nie eine Beförderung
ihres eigenen Anliegens dar.
Patriotismus als linke Tugend Der Patriotismus steht leider nicht nur bei seinen Nutznießern, den Regierenden, und bei den Patrioten selbst hoch im Kurs, sondern auch erklärte Gegner des Gesellschaftssystems, das unter anderem auch diesen Identifikations-Schmarrn hervorgebracht hat, wollten gerade an der Liebe zum Vaterland nicht rütteln. Der Idealismus des Staatsbürgers, der vor dem wuchtigen Wert, den die Heimat darstellt, seine eigenen kleinen Bedürfnisse gar nicht mehr in Anschlag bringen will, war ihnen ein Beweis für die Integrität des Volkes, das sie durch Politiker, die ihr Land verraten und Kapitalisten, denen der Profit mehr gilt als das Wohl des Vaterlandes, mißbraucht und fehlgeleitet sahen. Die revolutionäre Rhetorik des 20. Jahrhunderts ist durchsetzt von Ausfällen gegen die Fremdherrschaft, gegen Einheimische, die sich zu Agenten des Auslandes machen, und von der Glorifizierung der eigenen nationalen Traditionen. Auch hierzulande fällt linken Kritikern, wenn sie gegen die EG Stimmung machen wollen, nichts anderes ein, als alles, was österreichisch ist, als positives Zerrbild zur Fremdbestimmung durch eine ausländische Macht zu verherrlichen.
Der Reale Sozialismus als Betätigungsfeld
der nationalen Identität Die kapitalistische Klassengesellschaft stellte für die
Kommunisten bolschewistischer Schule eine Spaltung der Nation dar, die
es aufzuheben galt, um ein störungsfreies Verhältnis zwischen Staat
und Volk, das für sie die Vollendung der Zivilisation darstellte, zu etablieren.
Das haben sie auch so eingerichtet, störungsfrei insofern, als es unmittelbar
war und keine zivile Sphäre außerhalb dieses Verhältnisses
zuließ. Der sozialistische Staat hat sich eben als die Bedingung alles
Tuns und Treibens seiner Untertanen definiert und alle ihre Lebensäußerungen
so aufgefaßt, als wären sie unmittelbar an ihn gerichtet. Was für
den Aufbau dieses sozialistischen Staates, der angeblich wahren=Volksdemokratie,
also Volks-Volksherrschaft, nicht notwendig war, wurde als dekadent, reaktionär
oder sonstwie verderblich eingestuft. Sodaß Betätigungen, die in
einem kapitalistischen Staat als harmlos bis ehrenwert gelten, drüben die
Qualität einer systemkritischen Haltung erhielten. Dort, wo solchermaßen die Einheit von Oben und Unten
als verwirklicht behauptet und ständig einfordert wurde, stand die Nation
hoch in Kurs: Mit der Beschwörung der nationalen Werte und dem Benennen
von Plätzen und Straßen nach allen möglichen Patrioten, Staatsmännern
und Kulturschaffenden der nationalen Geschichte wurde die eigene Herrschaft
legitimiert als Ausdruck des Volkswillens und Exekutor des historischen
Auftrags der Nation und gleichzeitig die Botmäßigkeit der Bürger eingefordert. Das Lob der prinzipiellen Unterordnung, wie es
in der Liebe zur Heimat ausgedrückt ist, schuldet sich nämlich stets
dem gierigem Schielen auf die Funktion, die sie für jede Herrschaft leistet. Das Totalitäre dieses Anspruchs unterscheidet sich in nichts von
dem in der Demokratie: Nicht an seinen Maßnahmen, daran, was sie
den Leuten bescheren, sollte der sozialistische Staat gemessen werden, sondern
die Bürger sollten diese als Dienst an der Nation würdigen und unterstützen. Auch nach innen, in der Minderheitenpolitik, hat das Prinzip der nationalen Identität, die angeblich die beste Vorbedingung für Sozialismus und Völkerfreundschaft sein sollte, seine entsprechende Ausgestaltung erfahren. Mit Leuten konfrontiert, die sich ihre widrigen Lebensumstände wie Armut oder die Willkür der Behörden lediglich aus den Vormachtsansprüchen anderer Nationalitäten erklärten, aus Fremdbeherrschung eben, und dagegen die nationale Identität kultivierten, in ihren Äußerungen einen guten Teil ihres Lebensinhaltes sahen, hatten die neuen sozialistischen Herrscher nichts Besseres zu tun, als ihnen zunächst recht zu geben, sie sogar als natürliche Bündnispartner zu definieren. Exemplarisch hier Tito: Die Linke sah ihre Aufgabe darin, die Jugoslawische KP zur revolutionären Partei der Arbeiterklasse zu formen und die Bauernschaft und die unterdrückten Nationen als die natürlichen Verbündeten des Proletariats für sich zu gewinnen. (Tito, Autobiographische Bekenntnisse, S 45, zitiert nach einem jugoslawischen Geschichtsbuch für die 8. Klasse.) Dieser Kniefall vor dem gekränkten Nationalismus ergibt
sich ganz folgerichtig aus dem Vorherigen: Wer die nationale Identität
so schätzt, daß er sie als notwendiges Attribut des Menschen ansieht,
als wäre es eine Nase oder eine Niere, oder als eine zivilisatorische Errungenschaft,
kraft derer sich der staatenbildende Mensch vom Tier unterscheidet, der will
dann nur ihren richtigen Einsatz regeln. (Er kann sich daher den Äußerungen
dieser Einstellung auch dann nicht entziehen, wenn sie ihm nicht ganz ins Konzept
passen.) Denn genausowenig in einer österreichischen Schule der
Deutschunterricht darin besteht, daß den Kindern die deutsche Sprache
in Wort und Schrift korrekt beigebracht wird das trostlose Ergebnis läßt
sich an den Schulabgängern ja studieren, sondern mit Goethe und
Grillparzer die Werte der deutschen und österreichischen Kultur und die
Vermittlung des schönen Gefühls, österreichischer Staatsbürger
mit einer langen und ruhmreichen Tradition zu sein, vermittelt wird; ebensowenig
wird in einer ungarischen Schule in den entsprechenden Gegenständen bloß
Grammatik und Wortschatz oder mathematische Formeln gelehrt oder bei einem kroatischen
Kulturverein bloß getanzt und gesungen. Sondern man lernt sich als Mitglied
einer völkischen Einheit zu definieren und seine Lebensäußerungen,
Bedürfnisse und Ansprüche im Rahmen dieser Einheit abzuwickeln.
Dissidenten genauso wie konforme
Intellektuelle Anhänger nationaler Einheit und ehrgeizige Staatsmänner
in postkommunistischer Zeit Der Reale Sozialismus mit seinen teilweise unschönen Erscheinungen
hat eine Sorte Kritiker hervorgebracht, die ihre Kritik von vornherein vom Standpunkt
der Nation abfaßten. Entweder die nationalen Werte, Rasse, Boden, die
Geschichte wurden beschworen, um der Kritik Wucht zu verleihen und die Anständigkeit
und Staatstauglichkeit der eigenen Vorstellungen zu beweisen. So z.B. Solschenizyn,
der den letzten Grund der stalinistischen Arbeitslager und anderer sowjetischer
Greuel in der Abkehr von den traditionellen russischen Werten, dem Bauerntum,
der Orthodoxie, sieht, die Rückkehr zu ihnen die von ihm aus ruhig
diktatorisch vor sich gehen kann als das einzige Heilmittel gegen die
Übel, die die Sowjetherrschaft gebracht hat. (Siehe dazu: Alexander Solschenizyn,
Brief an die Führer der Sowjetunion, Paris 1974.) Andere Kritiker verlegten sich darauf, im Namen der Demokratie
das Verhältnis von Politikern und Volk zu thematisieren, der Obrigkeit
Machtmißbrauch d.h., Verrat am Volk vorzuwerfen. So hat
der ehemalige Trotzkist, Mitbegründer des KOR (Komitee zur Verteidigung
der Arbeiterklasse) und heutige Arbeitsminister von Polen, Jacek Kuron, seinerzeit
sein Mißfallen darüber ausgedrückt, daß die Bürger
seines Landes in das politische Leben nicht genug eingebunden würden, somit
gar keine positive Einstellung zu den jeweiligen Maßnahmen gewinnen könnten.
(Siehe dazu: Jacek Kuron und Karol Modzelewski, Offener Brief an die Vereinigte
Polnische Arbeiterpartei, 1965.) Gewährt die heutige Regierung ihnen diese
Mitbestimmung durch demokratische Rechte, so können offenbar die solchermaßen
verteidigten Arbeiter ruhig von der polnischen Regierung in Zusammenarbeit mit
dem IWF verarmt werden. Der nunmehrige Präsident von Tschechien, dem wegen nationalistischer Umtriebe gerade ein Stück Staatsgebiet abhanden gekommen ist, und dessen Originalität sich seinerzeit in der Ausreizung des öden Gegensatzes zwischen Individuum und totalitärem Staat erschöpfte gegen die tönerne Autorität der Führenden , (aus: V. Havel, Versuch, in der Wahrheit zu leben, Hamburg 1989) sowie in der Ausmalung der Probleme, die der Mensch mit sich selbst bekommt, wenn er durch ständige Unterdrückung eine Persönlichkeitsspaltung erleidet, denkt heute bereits in höheren Prinzipien und hat feste Vorstellungen darüber, wie das Individuum sein Selbst pflegen soll: Im Einklang mit der Herrschaft und nützlich für sie: Nationale Eigenständigkeit beruht nicht auf dem Gefühl der Überordnung, sondern aus dem Gefühl der Zusammengehörigkeit mit den anderen. Sie wird nur in einem demokratischen Rechtsstaat gesichert. (Rede Havels an der Universität Wien, in: SN 16.3.1993) Einen Nationalismus, der jemanden bedroht, sehe ich nicht. Ich würde sogar sagen, daß uns ein bißchen Patriotismus nicht schaden könnte. (Interview mit Havel, in: Standard, 13.3.1993) So geht halt die nicht tönerne (vielleicht goldene?) Autorität
der Führenden! Die Karriere, die sowohl Gegner als auch gehorsame Diener der
seinerzeitigen sozialistischen Regimes nach deren Sturz gemacht
haben, bebildert einmal mehr, wie sehr die Sorge um das nationale Wohl das Denken
der Intellektuellen in dieser Weltgegend beflügelt hat. Die Konkurrenz
um die Macht, die sie sich heute liefern, macht darüberhinaus deutlich,
wie sehr die Kritik der Gegner, die als Beschwerde über die Leiden, die
die sozialistische Herrschaft ihren Untertanen gebracht hat, vorgetragen wurde,
eine Beschwerde gegen die Staatsform, den Staatszweck war und
nicht über dessen unangenehme Auswirkungen. Sobald nämlich
eine ihnen genehme Herrschaft, die Demokratie, an der sie aktiv teilnehmen,
den gleichen Bürgern neues Elend auferlegt, dient dieses höchstens
als Material in der Parteienkonkurrenz, aber niemals zur Kritik am System.
Bürgerkrieg, Sezession und Krieg als
Antworten auf den Zusammenbruch einer Produktionsweise gegeben werden oder noch werden können. Schließlich ist die immerhin von den Machthabern des Realen Sozialismus,
den regierenden Kommunisten selbst getroffene Diagnose, daß ihre
ganze Wirtschaft verglichen mit einer kapitalistischen recht schlecht aussieht,
nicht einer nüchternen Bestandsaufnahme dessen geschuldet, was für
ihre Untertanen dabei herauskommt. Was Armut und Elend betrifft, so können
nämlich nordenglische Industriestädte und süditalienische Dörfer
durchaus mit sibirischen und nordböhmischen Drecksnestern mithalten. Wenn
also die Bestandsaufnahme nur geheißen hätte: der Sozialismus bekommt
unseren Leuten schlecht!, so folgt daraus die Kritik der eigenen Art des
Wirtschaftens, keineswegs aber die angestrebte Übernahme des Kapitalismus. Die Realität entspricht jedoch nicht den Erwartungen:
Die Politiker Ungarns, Polens und der übrigen Ostblockstaaten gehen bei
den Herren der BRD, Frankreichs oder sogar des kleinen Österreich, betteln
um Kredite, Zollkontingente, Aufnahme in internationale Gremien, Hilfe gegen
etwaige Aggressoren und es wird ihnen mehr oder weniger unverhüllt beschieden,
daß sie als Konkursverwalter einer maroden Nationalökonomie, als
Aufsicht vor Ort, zwar anerkannt sind, als mehr jedoch nicht.
Sie werden als die Ausführungsgehilfen des Freien Westens angesehen, in
einer Zone, die ökonomisch von Jahr zu Jahr mehr abgeschrieben und im gleichen
Atemzug immer mehr als sicherheitspolitisches Risiko besprochen wird. Im Lande
selbst hinterläßt der Beschluß von osteuropäischen Regierungen,
sich unter dem Stichwort Privatisierung aus der Wirtschaft zurückzuziehen,
mehrheitlich Industrieruinen oder brachliegende Felder, stützt also bei
den Untertanen das hartnäckige Vorurteil, daß ohne Staat nichts geht. Diese wirtschafts- und außenpolitische Ernüchterung
hat zur Folge, daß innenpolitisch der Kampf um die Staatsmacht an Schärfe
zunimmt. Wenn ein Staatschef im Konzert der Nationen nur die 35. Geige spielt,
will er im eigenen Lande wenigstens unangefochten sein, um dann die unpopulären
Maßnahmen durchzusetzen, von denen er sich den Aufschwung erwartet, der
bisher ausgeblieben ist. Die diktatorischen Gelüste osteuropäischer
Regierungspolitiker richten sich somit im Grunde genommen gegen die gesamte
Bevölkerung, deren Verarmung weiterhin auf der Tagesordnung steht. Ausgetragen
wird der Machtkampf jedoch zwischen Regierung und Opposition und deren Parteigängern
in den Medien. Die besserwisserische Nörgelei diverser Oppositionspolitiker:
Die Regierung treibt das Land in den Ruin, nur ein Regierungswechsel,
der uns an die Macht bringt, kann das verhindern greift in Osteuropa Regierungen
an, die tatsächlich keine Erfolge vorzuweisen haben, auf die sie
sich berufen könnten, um diese Kritik zurückzuweisen wie das
in demokratischen Staaten eben üblich ist. Diese feine Klinge der demokratischen
Kritik wird daher ersetzt durch die etwas gröbere, darauf hinzuweisen,
daß in schweren Zeiten die Regierung beim Regieren nicht gestört
werden will und zum nationalen Konsens aufzurufen, ihn zu gebieten. Die
Opposition wiederum versäumt nicht, darauf hinzuweisen, daß auch
sie nichts anderes als das Wohl der Nation im Auge hat und deswegen einfach
ihre Stimme gegen die Regierung erheben muß. Kommt es tatsächlich
zu einem Regierungswechsel durch Wahlen, so läßt sich das ganze Spiel
mit verteilten Rollen fortführen. Die Geschädigten des wirtschaftlichen Verfalls, den der
Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft darstellt, entlassene
oder von Entlassung bedrohte Arbeiter, unter dem Existenzminimum dahinvegetierende
Pensionisten, Schulabgänger ohne Aussicht auf Arbeit usw. interpretieren
ihre Lage mehrheitlich als Führungsschwäche der Politiker, die die
Potenzen, die im Lande schlummern, nicht zur Entfaltung bringen können.
Für jemanden, der gelernt hat, seine Staatsgewalt ganz abstrakt, also systemunabhängig,
als Grundbedingung seines persönlichen Wohls zu begreifen, ist die Fortsetzung
dieses Gedankens nur mehr eine Kleinigkeit: Der jeweiligen Regierung mangelnde Entschlossenheit vorzuwerfen, einerseits im Umgang mit dem Ausland unter
dem Stichwort Ausverkauf der Nation, und nach innen, gegen Parasiten
und volksfremde Geschäftemacher, die den Niedergang des Landes aktiv betreiben.
Die Feinde werden ihnen schließlich auch von der Politik präsentiert:
Flüchtlinge oder auch nur Studenten aus den ehemaligen Bruderländern
oder der Dritten Welt sind ein Problem, weil selber arm, sie stellen
eine Altlast der Völkerfreundschaft dar, ihre Einreise gehört mit
allen Mitteln beschränkt. Touristen oder Geschäftsleute aus dem Westen,
Deviseninhaber, sind hochwillkommen, wie immer sie sich auch benehmen. Die einheimischen
Händler und Spekulanten sind zwar die Lieblinge der Politik, es fallen
aber auch hin und wieder böse Worte über Steuerhinterziehung, Schmuggel
und zwielichtige Geschäfte dieser Personen.
Da gibt es dann erstens innere Feinde. Der Antisemitismus feiert fröhliche Urständ, die Zigeuner werden wechselweise durch Kommunalbehörden deportiert oder durch Privat-Saubermänner drangsalisiert, und es gibt von Tschechien bis in den Kaukasus und noch weiter unverhohlene Versuche, alles, was sich an Minderheiten auf dem eigenen Territorium vorfindet, entweder mit allen Mitteln zu assimilieren oder gewaltsam zu verscheuchen. Die mit Entsetzen kommentierten ethnischen Säuberungen in Bosnien verdanken sich der Erfahrung, daß eine Minderheit auf dem eigenen Staatsgebiet einen Titel auf Einmischung durch das Ausland darstellt, der die Einheit der Nation gefährdet. Ein Ende dieser Praktiken ist nicht in Sicht, weder in Jugoslawien noch anderswo, im Gegenteil, denn es werden ja die Gründe für sie beständig reproduziert.
Ärgernis Nr. 2: Wir werden fremdbestimmt Eine andere Möglichkeit, sich den mangelnden Erfolg des
Go west zu erklären, besteht darin, die Zentralmacht dafür verantwortlich zu machen. Der Nationalismus läßt sich
nämlich durchaus auch als regionale Borniertheit betreiben, mit der ein
Bundesland, ein Provinz, eine Autonome Republik meint, einzig ihre Bindung an
einen unfähigen Gesamtstaat stünde ihr durch einen politischen schlechten
Ruf oder wirtschaftliche Ausbeutung bei der Bewährung auf dem
Weltmarkt im Wege. Auch diese Sichtweise geht wie alle nationalistischen Interpretationen
mit völliger Gleichgültigkeit gegenüber wirtschaftlichen Tatsachen
einher. So ist die Slowakei durch staatlichen Beschluß und unter jahrzehntelanger
Verlagerung von Ressourcen aus Böhmen und Mähren zu einem Zentrum
der Rüstungs- und Schwerindustrie ausgebaut worden. Die baltischen Staaten
verdanken ihre ganze Industrialisierung, Litauen sogar einen Teil seines Staatsgebietes
der Sowjetmacht, und Slowenien ist von Jugoslawien mit billigen Rohstoffen und
Halbfertigprodukten zu einem Standort für Westexport gemacht worden,
um damit Devisen für den Gesamtstaat zu erwirtschaften. Und diese Industrie
hatte nur im Rahmen des Gesamtstaates ihre Bedeutung und Tauglichkeit. Jetzt
versuchen diese Staaten nach der Devise take the money and run mit
dieser so eingerichteten Industrie und Wirtschaft auf eigene Faust ihr Glück auf dem Weltmarkt. Dabei wird ihnen zwar praktisch beschieden, daß
auf dem Weltmarkt gar kein Bedarf nach ihren Produkten herrscht, aber auch diese
Erfahrung führt nicht zu einer Revision des Verdikts, das sie einmal gefällt
haben. Kein verantwortlicher Politiker meint, der Wiederanschluß an
die alte Macht (oder eine der ehemaligen Provinzen derselben) wäre
angesichts der traurigen Ergebnisse der Abspaltung vielleicht wieder angesagt,
sondern es steht fest, daß an der Abfuhr, die sie in der internationalen
Konkurrenz erleiden, erst recht wieder die frühere Unterdrückung
durch die Zentralregierung schuld ist. Der Spaltpilz setzt sich bei erfolgreichen Abspaltungen eher
fort, als daß ihm ein Riegel vorgeschoben würde irgendein
Material läßt sich schon finden, seis eine eigene Sprache, ein anderer
Dialekt, eine andere historische Entwicklung, die verschiedene Teile
eines frischgebackenen Staates durchgemacht haben flugs finden sich Befürworter
einer neuen Autonomie, wie diffus auch die Vorstellungen über deren
konkrete Nützlichkeit sein mögen. Ungarische Eltern!
Ärgernis Nr. 3: Die Nachbarn werden
frech! Es fehlt aber auch nicht an äußeren Feinden,
die dem eigenen Staat zu nahe treten könnten, wenn man nicht aufpaßt.
In dieser Rubrik sind die Anrainerstaaten, die früher dem Ostblock angehört
haben, die erste Adresse: Wer sonst, wenn nicht die Regierung des Nachbarlandes,
torpediert die eigenen politischen Ambitionen auf Vormachtstellung in
einer Region, in der durch Abdanken der alten Schutzmacht scheinbar
alles möglich geworden ist? So sind die diplomatischen Beziehungen der
ostmitteleuropäischen Staaten wie sie sich gern vornehm nennen,
um nicht schon wieder mit den unzivilisierten Russen in einen Topf geworfen
zu werden , und der GUS-Staaten gezeichnet von offenen und versteckten
Frechheiten, die dann wieder dementiert werden, um diese Art von Dialog
mit frischen Kräften fortsetzen zu können. Mit Berufung auf dort lebende
Minderheiten leisten sich Polen und Ungarn in einem fort Einmischungen in die
Belange der Nachbarländer; die Friedensverträge, die die heutigen
Grenzen festgelegt haben, dürfen hin und wieder öffentlich thematisiert
werden. Dann wiederum werden Verträge unterzeichnet, die die Anerkennung
der Grenzen gegenseitig garantieren eine Garantie, die ja nur dort gefordert
wird, wo die gegenteilige Absicht offensichtlich ist. Kraftwerke und Industrieanlagen
in Grenznähe würde jeder Staat dem Nachbarn am liebsten verbieten,
wenn es in seiner Macht läge, usw. Ein weiterer Anlaß für böses
Blut sind die Wirtschaftsbeziehungen zwischen diesen Staaten, wie sich nach
dem Zusammenbruch des RGW und der Auflösung der UdSSR, Jugoslawiens und
der CSFR entwickeln: Jeder möchte die Wirtschaft des anderen Staats als
billiges Hinterland benützen, also von dort möglichst billig
und auf Tauschbasis importieren, um selber in den Westen, gegen Devisen, zu
exportieren.
Fazit: Patrioten sind Idioten besonders dann, wenn die Liebe zur Heimat den Ersatz für jegliche auch noch so kleine Annehmlichkeiten darstellt, die ihnen
diese Heimat gewährt. Wenn sie also in einem Staat, in dem sie nicht einmal
ihr bescheidenes Auskommen finden, gerade darüber die Wichtigkeit der Stärkung dieses Staates entdecken. Wenn sie an anderen, Fremden, wahrzunehmen
meinen, daß diese sich etwas heraus- und dadurch ihnen etwas wegnehmen das ist deswegen besonders dumm, weil die Verfolgung und Vertreibung
von Asylanten oder Juden oder Muselmanen gerade kein Weg ist, selbst etwas zu erhalten. Der Erste, der sich an der Tasche seiner Bürger bedient
und seine Untertanen gegebenenfalls auch verheizt, ist nämlich die Staatsgewalt
selber. besonders dann, wenn sie als Mitglieder einer Minderheit auf die Benachteiligung
oder Verfolgung, die sie durch staatliche Behörden und private Saubermänner
erleiden, nichts anderes geltend machen zu wissen als eben das Beharren auf
ihrem partikularen Patriotismus und die Forderung nach Autonomie oder Sezession
für ihr Gebiet. Sie tun damit nämlich kund, daß sie von neuen,
eigenen Politikern alles zu erdulden bereit sind, was sie von den
fremden als schreiende Ungerechtigkeit empfinden: Verarmung durch
Inflation und Reallohnsenkungen, Arbeitslosigkeit und Militärdienst, mit
einem Wort: ihre Bestimmung zur Manövriermasse der Staatsmacht. besonders dann, wenn sie in ihrer Eigenschaft als Beobachter des
nationalistischen Treibens die nationale Identität als ehrenwerte
Eigenheit hätscheln und unbedingt gefördert sehen wollen, um sich
dann freilich sehr in Einklang mit den politischen Konjunkturen, der
Scheidung zwischen genehmen und nicht genehmen Herrschaften in Unverständnis
zu gefallen, wenn manche Regierungen oder Möchtegern-Staatsmänner
sich dieser nationalen Identität bedienen, um ihr Staatsgebiet zu vergrößern
bzw. sich eines zu erobern und andere mit der gleichen Begründung ihnen
das zu verwehren suchen. Kriege werden übrigens immer im Namen der Nation geführt, für die das eigene Leben nicht zu schade sein darf. Hauptsache, der kriegsführende Staat kann auf seine Patrioten zählen. _____________________ (erschienen in FORVM österreichische 2-monatlich erscheinende Zeitschrift, 1995 eingestellt. Der Artikel erschien im Juli 1993) |