Die Ukraine im Jahr 6 der Unabhängigkeit: Außer Spesen nix gewesen
1. Vom Wesen der Souveränität Souveränität, das heißt: Eine Staatsmacht, eine Regierung
hat die unumschränkte Verfügungsgewalt über ihr Territorium,
ihre Bevölkerung, und alles dazugehörige, Luftraum, Meer, etc.
Aus dieser Verfügung bezieht sie die Mittel für ihre Machtausübung,
zahlt ihre Beamten und Soldaten, kauft sich das nötige Kriegsgerät,
baut Straßen, Schulen etc. An ihrer Wirtschaft bedient sich diese
Staatsmacht erstens über ihr Geld, das sie exklusiv druckt und in
Umlauf bringt, über Steuern und Anleihen, also Kredite, die sie bei
der eigenen Bevölkerung nimmt. Auf diese soliden Grundlagen gestützt,
setzt sich eine Regierung mit ihresgleichen, also anderen Staatsmächten,
ins Benehmen und versucht sie für die eigenen Interessen nutzbar
zu machen, in dem Ausmaß, in welchem sich die anderen ihren
Wünschen anbequemen. Entgegen anderslautenden Gerüchten ist die Souveränität
ein verflixtes Gut, deren Besitz ebenso wie deren Mangel den Bürgern
aller Staaten schlecht bekommt: Dort, wo die einheimischen Politiker mit
ihrer Bevölkerung nach eigenem Gutdünken schalten und walten
können, sind die Leute genau so wie in einem postkolonialen, abhängigen
Staat zum Arbeiten und Kriegführen vorgesehen; sie dürfen, sofern
sie dabei überflüssig sind, im Schatten der Banken betteln,
oder sie dürfen als Weltpolizisten andere Völker gewalttätig
zur Räson bringen. Erst recht bekommen die meisten Bürger der Ukraine das Streben ihres Staates nach Souveränität ohne die entsprechenden Grundlagen negativ zu spüren als eine ständige Bedrohung der eigenen Existenz. 2. Abhängigkeit Richtung Osten: Die nicht aufzulösende
Verflechtung mit Rußland Die Ukraine ist in ihrem Erdöl- und Erdgasbedarf wegen der Lage ihrer
Pipelines völlig von russischen Lieferungen abhängig. Ebenso
bezieht sie die Brennelemente für ihre Kernkraftwerke von Rußland,
bisher zum Teil im Austausch für die seinerzeit abtransportierten
Nuklear-Sprengköpfe, ab Ende 97 aber nur mehr gegen $. Im März
mußte einer der beiden noch in Betrieb befindlichen Reaktoren von
Tschernobyl ausgeschaltet werden, weil der russische Partner sich geweigert
hatte, die nötigen Brennelemente auf Pump zu liefern. Die Verhandlungen der ukrainischen Seite mit den russischen Firmen und
Politikern sind zäh und unerfreulich für erstere, denn die Ukraine
braucht die Energieträger zwar unbedingt, um die Reste ihrer Industrie
in Gang zu halten und ihre Bevölkerung über den Winter zu bringen,
sie hat aber nicht viel dafür zu bieten. Harte Währung ist ein
sehr flüchtiges Element in der ukrainischen Staatskasse, und es scheint
auch sehr wenige Waren zu geben, die die Ukraine gegen das Öl und
Gas eintauschen könnte. Daher enden diese Verhandlungen statt bloß
mit Zahlungszusagen oft auch mit allerlei Zugeständnissen an die
russischen Verhandlungspartner, die dann den innenpolitischen Streit um
den Vorwurf bereichern, hier seien wieder einmal die nationalen Interessen
verraten worden. Die Ukraine besitzt zwar eine Rüstungsindustrie, aber sie ist von
russischen Komponenten abhängig: Im März versprachen russische
Politiker der indischen Regierung, einen Panzerverkauf der Ukraine an
Pakistan zu unterbinden, indem die russischen Betriebe die benötigten
Teile für die Panzer nicht an die Ukraine liefern würden. Das
läßt auch auf die Ausrüstung der ukrainischen Armee selbst
schließen: Da läuft vermutlich ohne russische Lieferungen auch
nicht viel. Ein weiterer Dauerbrenner in der Zwangsehe zwischen den beiden Staaten
ist der Zank um die Schwarzmeerflotte und ihren Stützpunkt Sevastopol.
Wenn westliche Militärexperten feststellen: Die Unabhängigkeit
der Ukraine ist bis auf weiteres nicht den eigenen Anstrengungen oder
gar westlichen Garantien
sondern primär der russischen Schwäche
zu verdanken, so gibt das den Hintergrund dieses Streites treffend
wieder. Die Ukraine ihrerseits beharrt wohl auf ihrem Territorium, ebenso
auf ihrem Anteil an der Flotte, aber ohne dafür eine Verwendung zu
haben. Das militärische Erbe einer Weltmacht ist für einen Staat,
der gar keine Vormachtstellung im Schwarzen Meer anstrebt, etwas zu groß
dimensioniert, und die Ukraine hätte auch gar nicht die nötigen
Mittel, um eine solche Flotte zu erhalten. Das ist eigentlich ein Paradox
in der Staatenwelt: Denn im Prinzip hätte ja jede Regierung gerne
möglichst viel und möglichst gutes Gerät, um sich damit
bei ihren Nachbarn den gehörigen Respekt zu verschaffen. Die Ukraine
jedoch kalkuliert mit ihrem Waffenarsenal von vornherein als einer Mitgift
für einen NATO-Beitritt, mit ihrem Territorium als einem einzigen
großen Stützpunkt für die anvisierten westlichen Bündnispartner
eine Berechnung, die aber aufgrund ihrer Rußland-Abhängigkeit
bis auf weiteres nicht aufgeht. Auch bei der privaten Wirtschaftstätigkeit der Bevölkerung will die Trennung von Rußland nicht so recht in Gang kommen: Die mit der Einführung des Hryvna verbundene Währungsreform der Ukraine im September des Vorjahres war von einem Verbot des Devisentransfers begleitet. Dieses Verbot richtete sich nicht gegen $ und DM, sondern gegen den Rubel: Es war ein Versuch der ukrainischen Regierung, sich selbst über die Gültigkeit des eigenen Zahlungsmittels zu informieren und ihre Bürger (wieder einmal) auf dieses zu verpflichten. Im Oktober beschloß Rußland, eine Importsteuer auf ukrainische Waren zu erheben und zu diesem Zweck Zollämter zu errichten: Es gab also bis dahin keine. Der Osten der Ukraine ist somit ein Gebiet, in dem der Rubel als Zahlungsmittel mindestens genausoviel zählt wie die diversen ukrainischen Geldscheine, und der über gar keine richtige Landesgrenze zum Nachbarland verfügt. 3. Abhängigkeit Richtung Westen: IWF, Tschernobyl-Kredite,
NATO Zur Pflege ihrer Souveränität bedarf die Ukraine der Hilfe aus
dem Westen. Damit die ukrainische Regierung überhaupt Kredite in
harter Währung erhält, die teilweise für die Bezahlung
russischer Energielieferungen verwendet werden, ferner für allgemeine
Staatsnotwendigkeiten, wie das Eröffnen und Aufrechterhalten von
Botschaften rund um die Welt, muß die Ukraine ihre Währungspolitik
der Aufsicht des IWF unterstellen. Der drängt auf Bekämpfung
der Inflation durch Geldmengenbeschränkung. Dies hat in der Ukraine
die gleichen Folgen wie in Rußland und anderen Staaten, die den
Schlüssel ihrer Banknotenpresse beim IWF abgeben mußten: Der
Staat, der immer noch der größte Arbeitgeber im Lande ist
im Sommer 1996 war laut FAZ 1% der Betriebe privatisiert , zahlt
eben seinen Angestellten monatelang keinen Lohn, seinen Pensionisten keine
Pension. Im Donbass sollen manche Bergarbeiter seit 1995 keinen Lohn mehr
erhalten haben. Mit der Atomruine in Tschernobyl versucht die ukrainische Regierung ebenfalls
ständig, Hilfsgelder und Kredite an Land zu ziehen. Die Schreckensszenarios,
die dabei ausgemalt werden der Beton-Sarkophag des Katastrophen-Reaktors
würde bald platzen, usw . mögen realistisch oder übertrieben
sein, sicher ist jedenfalls, daß die Normalität des Reaktorbetriebes
eine ständige Gesundheitsschädigung der dort Beschäftigten
und der gesamten Umgebung einschließlich des 90 km entfernten Kiew
zur Folge hat. Die Stillegungshilfen und -kredite, die die Ukraine für
das Abstellen dieser Giftschleuder zugesagt bekommt und wohl auch erhalten
wird, lösen das Problem allerdings nicht: Die derzeit noch betriebenen
2 der 4 Reaktoren sind ja nur deshalb weiter in Betrieb, weil die dort
erzeugte Energie nicht entbehrt werden kann: Im vergangen Winter stammte
die Hälfte der Stromversorgung Kiews aus Tschernobyl. Die Regierung der Ukraine betrachtet die Integration in die NATO ebenso wie die Staatsmänner der Visegrád-Staaten als eine sichere Verankerung im Westen und als Schutz gegen etwaige Wiedereingliederungsversuche oder Territorialansprüche Rußlands. Andererseits ist sie sich bewußt, daß ein Staat, der sich in einer solchen Abhängigkeit von Rußland befindet wie die Ukraine, wenig Chancen auf eine Aufnahme in diesen exklusiven Klub hat: Das imperialistische Militärbündnis wäre schlecht bedient mit einem Mitglied, dem die gegnerische Macht jederzeit mit rein zivilen Mitteln praktisch die ganze Wirtschaft lahmlegen kann. So beteuern NATO-Verteidigungsminister und ukrainische Politiker regelmäßig, wie gerne sie doch zueinander kommen wollten, versichern einander gegenseitig durch die Blume ihre Abneigung gegen den russischen Bären und trennen sich wieder unverrichteter Dinge. 4. Ein willkommener Sündenbock: volksfremde Elemente,
oder: Das Nationalitätenproblem der Ukraine Ein guter Teil der ukrainischen Bevölkerung sind ethnische Russen
und dies wird von der Regierung als großes Problem für die
Ukraine betrachtet. Dies ist eine leichte Untertreibung, denn eigentlich
bedeutet für diesen Staat die gesamte Bevölkerung ein einziges
Problem: Sie ist zunächst einfach da, will essen, sich kleiden und
die Stromrechnung bezahlen, reflektiert daher auf ihre Gehälter,
produziert aber gleichzeitig zuwenig und das oft auch noch in Schwarzarbeit,
zahlt keine Steuern und behilft sich oft genug mit kriminellen Machenschaften
bei ihren Zahlungsschwierigkeiten. Zu der traditionellen Unart des unmäßigen
Alkoholkonsums gesellt sich auch noch die neumodische, verwestlichte der
Drogensucht: Mit einem Wort, die Ukrainer als Ganzes bringen fast nichts
ein, verursachen aber dennoch jede Menge Unkosten. Es mag ja auch vorkommen, daß russische Ukrainer ihr Elend dem Umstand
zuschreiben, daß sie sich im falschem Staat befinden, in einem,
der nicht der ihrige ist. Das ist zwar etwas dümmlich, denn das Nicht-Zahlen
von Gehältern in Verbindung mit dem ständigen Steigen der Preise
ist in Rußland ebenfalls üblich. Aber mit oder ohne anti-ukrainische
Parolen: Für die ukrainischen Staatsmänner werden Demonstrationen
und Streiks in den mehrheitlich russisch besiedelten Gebieten von vornherein
als nationalistische, separatistische Machinationen qualifiziert, die
den Tatbestand des Hochverrates erfüllen und mit aller Härte
zurückgewiesen gehören: Eine staatspolitisch motiviertes Vorgehen,
mit der der Grund des Volksunmutes nicht in den einheimischen Zuständen
geortet wird, sondern in feindlichen, auswärtigen Interessen. Wer
also für seit Monaten überfällige Löhne demonstriert
und dabei auch noch Züge blockiert, wie die Bergarbeiter im Donbass
im Sommer 1996, gefährdet die Einheit und Souveränität
der Ukraine und wird dafür vor Gericht gestellt. Die totale Abhängigkeit in beide Richtungen belebt die politische Konkurrenz dieses Landes, das Randgebiet heißt und dennoch so gerne eine respektable Macht wäre: Ukrainische Regierungs- und Parlamentsmitglieder beschuldigen einander, das Land entweder an den Westen zu verkaufen oder an Rußland zu verraten, die Ostukraine fühlt sich von der Westukraine im Stich gelassen, und umgekehrt. Und das mit wechselnden Fronten: Der jetzige Präsident Kutschma galt vor seiner Wahl als Russenknecht, seinen Wahlsieg hat er mit allen möglichen Versprechungen an die russischsprachige Bevölkerung errungen. Die hat er nicht eingehalten, und inzwischen betrachten ihn Freund und Feind als westorientiert. 5. Der wirtschaftliche Flop: Dieser Staat hat nichts
zu verkaufen Von der seinerzeit durchaus beachtlichen Industrie der Ukraine ist nicht
viel übriggeblieben. Ihre Betriebe sind entweder wegen Energiemangel,
oder wegen Mangel an Ersatzteilen für Maschinen, oder wegen fehlender
Zulieferungen, oder durch Wegfall ihrer Märkte zum Zusperren genötigt
wor-den. Der Umwelt bekommt das gut, meinen Optimisten, das Schwarze Meer
sei in den letzten Jahren viel sauberer geworden. Irgend etwas wird zwar
noch in der Ukraine produziert, aber darüber gibt es keine genauen
Angaben, weil jedes bißchen Geschäft und Gewinn vor den Steuerbehörden
verheimlicht wird und daher nicht bis in die Statistiken gelangt. Würden
diese kleinen Geschäfte und Herumschiebereien nämlich auch noch
zur Besteuerung veranlagt, so wären sie endgültig Verlustgeschäfte
und könnten deshalb genausogut unterlassen werden. Die landwirtschaftliche Produktion der einstigen Kornkammer ist in den
meisten Bereichen um mehr als die Hälfte zurückgegangen. An
den kläglichen Resten bedient sich außerdem die Regierung über
die sogenannte Staatsreserve, mit der sie noch immer Bartergeschäfte
mit den GUS-Staaten abwickelt, also vor allem für Energielieferungen
bezahlt. Sonst hat dieses Land nichts zu exportieren: 90% aller Waren sind Importwaren,
die ukrainischen Häfen sind fast leer. (Bei einem Lokalaugenschein
der Verfasserin verließ gerade eine Schiffsladung Schrott den Hafen
von Odessa. Nach Auskunft der Einheimischen kommt das eher selten vor.)
Zur Vermeidung von Kapitalflucht schreibt ein Gesetz ausgerechnet Warenimport
als Äquivalent für Devisenexport vor. Damit wird
anerkannt, daß ständig Geld, und zwar Devisen, also die heute
einzig anerkannte Form des Reichtums, das Land verläßt;
die Wirkungen dieses Abflusses sollen ausgerechnet dadurch kompensiert
werden, daß Import zur Pflicht gemacht wird. Die Ukraine ist eines der vielen traurigen Beispiele dafür, wie der
gesamte Reichtum eines Landes schlagartig entwertet ist, sobald seine
Produkte sich als Waren auf dem Weltmarkt bewähren müssen. Sie
lebt daher nur auf Pump und verschuldet sich rasant bei westlichen Staaten,
Institutionen und Banken; innerhalb der GUS sind ebenfalls beachtliche
Summen aufgelaufen. Der hauptsächliche Exportartikel des Landes sind daher Menschen in
den verschiedensten Funktionen: Ukrainische Söldner kämpften
in Georgien und Abchasien, ukrainische Bauarbeiter wurden für den
Wiederaufbau in Groznyj angeheuert, und zwar noch während erbitterter
Kämpfe zwischen Tschetschenen und der Roten Armee. Ukrainische Soldaten
sind bei UNO-Missionen im Einsatz, damit versucht die Ukraine etwas Geld
für ihre Armee zu erwirtschaften. Die Zahl der in der
Slowakei illegal beschäftigten Ukrainer wird auf 30.000 geschätzt.
Ähnlich wird es wohl in Polen aussehen. Ukrainische Einkaufstouristen
bevölkern Istanbuler Billigabsteigen. Im Jänner wurde in der
westukrainischen Stadt Iwano-Frankowsk ein Handel mit Neugeborenen aufgedeckt.
Für Preise zwischen 6.000 und 13.000 $ wurden die Babies, insgesamt
130 Stück, verkauft angeblich an adoptionswillige Westler. Wahrscheinlich machen die Ukrainer bald auch als Organ- und Blutspender Karriere: Ihre Chancen sind gut, schließlich liegen sie geographisch günstiger als Brasilien oder Indien. (AK Analyse und Kritik Nr. 401, 10.4. 1997)
Fortsetzung 2014: Imperialistische Gegensätze und mediale Scharfmacherei – Gerangel um die Ukraine |