DER
NIEDERGANG DER UNGARISCHEN LANDWIRTSCHAFT SEIT DEM SYSTEMWECHSEL
Essen darf nur der, der zahlen kann – erzeugt wird nur das, was verkauft werden kann.
Eine sozialistische kollektivierte Landwirtschaft
begibt sich auf den Weltmarkt und erleidet dort Schiffbruch
Die Landwirtschaft Ungarns war im Gegensatz zu derjenigen
anderer realsozialistischer Länder kein Sorgenkind der
Nation, sondern eine Stütze der Nationalökonomie. Größtenteils
kollektiviert, und mit den nötigen landwirtschaftlichen Maschinen
ausgestattet, galt die Landwirtschaft Ungarns mit überquellenden
Märkten und billigen Salamis dennoch westlichen Beobachtern, aber
genauso auch ungarischen Ökonomen stets als Muster dafür, wie
sehr marktwirtschaftliche Momente die Erträge einer realsozialistischen
Ökonomie verbessern, sofern man sie nur zuläßt. Als Beleg
für diese These im Bereich der Landwirtschaft galt die unter Kádár
erfolgte Gewährung des sogenannten Hauslandes, eines
privaten Gemüsegartens oder Feldes, dessen Produkte von den Besitzern
frei verkauft werden durften. An den Erträgen dieses Hauslandes sollte
man ablesen, wieviel produktiver in Privatinitiative bestellter Boden
im Vergleich zu den landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften sei.
Übersehen wurde dabei gerne, daß der Besitzer des Gemüsegartens
sämtliche Produktionsmittel, wie Treibstoff, Dünger, Pflanzenschutzmittel
usw. bei der Kooperative besorgte, er selbst daher fast ohne
Kosten produzierte, während sich die geklauten Chemikalien usw. bei
den staatlichen Genossenschaften als Unkosten zu Buche schlugen. Der Verkauf
geschah meistens über die Genossenschaft oder eine staatliche Organisation,
sie konnten im Unterschied zu heute damit rechnen, daß
ihnen ihre Produkte abgenommen wurden.
Soviel nur zum Hausland.
Im Jahr 1989 betrug der Nettoanteil der Landwirtschaft
an der Gesamtproduktion 23,4%, der Exportanteil belief sich auf 21,7%, also mehr als ein Fünftel. Nach Zielländern aufgeschlüsselt
betrug der Export landwirtschaftlicher Produkte 26% des Gesamtexportes
in die RGW-Staaten, und 10,1% des Devisenexports. Die Anzahl der in Landwirtschaft
und Lebensmittelindustrie Beschäftigten betrug im selben Jahr 21,8%
der arbeitstätigen Bevölkerung.(1) Diese Zahlen sollen nur der Veranschaulichung dessen
dienen, welche Rolle der Landwirtschaft in Ungarn zugekommen ist
in Zeiten, wo in Ländern mit weitaus geringeren Exportquoten und
Beschäftigungszahlen (BRD, Frankreich) anläßlich der GATT-Verhandlungen
ziemlicher Aufruhr herrscht.
Der wichtigste Exportmarkt Ungarns innerhalb des RGW,
auch für Lebensmittel, war die Sowjetunion, und deren Bedarf ist
im Grunde genommen unverändert hoch nur ist sie (bzw. sind
ihre Nachfolgestaaten) seit Jahren mehr oder weniger zahlungsunfähig.
Zudem bedient z.B. die Russische Föderation mit ihren spärlichen
Devisen lieber zunächst ihre Kreditzinsen im Westen, denn das gute
Verhältnis zu Westeuropa und den USA ist ihr wichtiger als das zu
ihren ehemaligen Verbündeten. Zudem sind diese aufgrund der früheren
RGW-Arbeitsteilung immer noch in gewissem Grade auf sie angewiesen. Im
Gegensatz dazu sind die GUS-Staaten, sobald es um Handel mit dem Westen
geht, in der gleichen Lage wie Ungarn: sie müssen die Bedingungen
annehmen, die der Weltmarkt und dessen Institutionen ihnen bieten, während
mit den ehemaligen RGW-Partnern um alles gefeilscht werden kann, auch
um Schulden.
Die UdSSR ist aus den Zeiten der Völkerfreundschaft her in Ungarn
verschuldet. Die Regierung Németh hat seinerzeit die Umrechnung
der Außenstände der UdSSR gegenüber Ungarn von Rubel in
Dollar erwirkt 1992 noch immer ungefähr 1,7 Milliarden $ ,
und Boris Jelzin hat unlängst bei seinem Besuch in Ungarn bekräftigt,
diese Schuld weiterhin anzuerkennen. Ein Teil wird inzwischen in Form
von Militärausrüstung zurückgezahlt. Die Zahlungsfähigkeit
und damit die Tauglichkeit als Handelspartner ist somit weiterhin nicht
gegeben.
Dennoch bleibt die UdSSR bzw. ihre Nachfolgestaaten, nicht zuletzt wegen
ihrer geographischen Lage, die zumindest das Problem der Transportkosten
gering hält, immer der Hoffnungsträger der auf ihren Überschüssen
sitzengebliebenen Produzenten. Die ungarische Regierung wird regelmäßig
bestürmt, doch Exportstützungen in die UdSSR bzw. GUS-Staaten
zu gewähren, d.h. im Grunde, Getreide oder Fleisch aufzukaufen und
in die UdSSR gegen weitere auflaufende Schulden zu exportieren, also die
UdSSR mit Lebensmitteln zu kreditieren. Verschiedene Betriebe versuchen
auf eigene Faust Bartergeschäfte mit der Ukraine oder der Russischen
Föderation einzufädeln, die meistens daran scheitern, daß
sich beim potentiellen Käufer keine Produkte finden, die ein ungarischer
landwirtschaftlicher Betrieb verwenden könnte. Oder man erhofft Abhilfe
aus dem Westen: Kredite westlicher Staaten an die UdSSR für Lebensmittelexporte.
So drängten die Außenminister der 3 von Visegrad
(Ungarn, Polen, CSFR) den amerikanischen Vizepräsidenten Dan Quayle
im Juni 1991 im slowakischen Bardejov, doch endlich der UdSSR zu helfen!
Eine seltsame Bitte, wo doch gerade in diesen 3 Staaten alles getan wurde,
um die sowjetischen Soldaten und alle Erinnerung an die einstige Abhängigkeit
von der UdSSR loszuwerden. Geholfen werden sollte natürlich
mit aus Kredit und Hilfsgeldern finanzierten Lebensmittellieferungen,
die in diesen drei Staaten einzukaufen gewesen wären. Die Beteiligung
Ungarns an diesen Hilfslieferungen war jedoch völlig unbedeutend,
angeblich bestand sie schließlich aus einem nicht allzu umfangreichem
Posten Pflanzenöl.(2)
Ein anderer Hoffnungsträger sind westliche Getreideaufkäufer,
die den ungarischen Landwirten ihre Ware abkaufen und der UdSSR auf Kreditbasis
verkaufen.
Über ein solches Kreditgeschäft berichtet das HVG im April 1992:
Das USA-Schweizer Unternehmen Finagrain exportierte mit Garantien
der ungarischen Regierung und der sowjetischen Außenhandelsbank,
also wiederum unter Belastung des ungarischen Staatshaushaltes
und unter Mitwirkung ungarischer Banken 500.000 t Weizen in Nachfolgestaaten
der UdSSR. Die Beteiligung der westlichen Firma hat das für sie erfreuliche
Ergebnis, daß sie zusammen mit einigen ungarischen Banken
ein gutes Geschäft gemacht hat. Die Produzenten sind zwar
ihr Getreide losgeworden, aber zu ungünstigeren Bedingungen, als
wenn sie direkt über die bisherige Außenhandelsfirma, die seit
Jahren die Exporte in die UdSSR abgewickelt hat, exportiert hätten.
Der ungarischen Regierung bleibt ein Verlust von 110 Millionen $, die
die Kreditdeckung ausmacht, da die Auflösung der UdSSR Probleme in
der Rechtsnachfolge mit sich bringt und keiner so recht für die Schuld
geradestehen will.(3) Diese Verteilung von Gewinn und Verlust ist typisch für
den gesamten Handel mit der UdSSR, und nicht nur mit der UdSSR.
Als Handelspartner fallen auch die anderen ehemaligen
RGW-Mitglieder mehr oder weniger aus, da sie seit der Umstellung des bilateralen
Handels auf $ lieber woanders einkaufen als in Ungarn, oder gar nicht.
Der Handel mit Serbien und Montenegro, in dem der Lebensmittelexport zwischen
einem Drittel und der Hälfte ausmachte, ist durch die Blockade zum
Erliegen gekommen. Nach Slowenien und Kroatien gibt es Lebensmittelexporte,
denen aber aufgrund von Größe, eigener Agrarproduktion und
Devisenmangel dieser Länder enge Grenzen gesetzt sind.
Somit bleibt Ungarn als einziger aufnahmefähiger
Markt für den Export der Westen. Da sind zunächst die EG-Staaten:
Der Preis des Exports in diese Länder besteht darin, daß Ungarn
seinen Markt in gewissem Grade den Importen aus diesen Ländern öffnen
muß. So hat Ungarn z.B. im Jahr 1991 allein aus der BRD Lebensmittel
im Wert von 115 Millonen DM (ohne Kaffee und Tabakwaren) eingeführt.(4) Insgesamt ist die Einfuhr von
Lebensmitteln nach Ungarn von 1990 auf 1991 um 31% gestiegen.(5)
1992 sind nach mehr als 1-jährigen Verhandlungen die EG-Assoziationsabkommen
in Kraft getreten: Sie bescheren einem Drittel des ungarischen Exports
Zollfreiheit, die Lebensmittel sind vor allem auf Druck Frankreichs
davon ausdrücklich ausgenommen.(6) Somit fallen
die Lebensmittelexporte Ungarns unter die gewöhnliche Schutzzoll-Politik
der EG. Es existieren sogenannte Abschöpfungszölle,
der österreichischen Vidierung gleichzusetzen, die wettbewerbsverzerrende,
also deutlich unter dem Preisniveau des Importlandes liegende Preise mit
hohen Schutzzöllen belegen. So z.B. das ungarische Rindfleisch mit
200%, wodurch der Export dieses Artikels von 100.000 t in den 70-er Jahren
auf 1-2.000 im Jahre 1991 zurückgegangen ist.(7) Bei den
Verhandlungen zu den Assoziationsverträgen mit den 3 von Visegrad
stand die Abschaffung dieser Zölle gar nicht zur Debatte,
sondern nur ihre Verringerung nach ungarischen Vorstellungen
um 60%, nach EG-Vorstellungen um 20%.
Mit Berufung auf EG-Normen kommt es zu ziemlichen Einmischungen in die
landwirtschaftlichen Belange Ungarns: Die EG-Vertreter drängen Ungarn,
die Tierhaltung in Großbetrieben aufzugeben und die Einkommensausgleichszahlungen
an die Genossenschaften als unzulässige Subventionierung
einzustellen.(8)
Eine weitere Methode des Protektionismus ist die Berufung auf in Ungarn
nicht vorhandene EG-Gesetze: Es gibt keine Tierschutzgesetze in Ungarn,
also ist auch die Qualität des Fleisches nicht gesichert das
ist der offizielle Grund Frankreichs und auch anderer EG-Mitgliedsstaaten,
ungarische Fleisch- und Viehimporte zu beschränken.(9)
Auch fehlende Umweltschutzbestimmungen ( mit denen ansonsten Investoren
angelockt werden) und angeblich unzureichende Hygiene-Verordnungen sind
schnell zur Hand, wenn es darum geht, ungarischem Getreide, Vieh oder
Geflügel der Zugang in EG-Staaten zu verwehren. Die im Herbst 1992
in einigen Komitaten Südungarns ausgebrochene Schweinepest ist ebenfalls
Wasser auf die protektionistischen Mühlen westeuropäischer Staaten,
auf einige Zeit verarbeiteten Fleischprodukten aus Ungarn einen Import-Riegel
vorzuschieben. Ebenso die Berufung auf die mangelnde Qualität eines
Produktes, so wie eben Qualität agrarpolitisch definiert
wird: Ein Apfel z.B. muß einen bestimmten Durchmesser haben und
ein gewisser Teil davon muß rot sein, sonst wird er nicht zum Import
in die EG zugelassen.(10)
Die Verhandlungen Ungarns mit der EFTA sind lange
Zeit am Veto Österreichs gescheitert, das 2/3 des Warenverkehrs zwischen
Ungarn und der EFTA auf sich vereinigt. Zankapfel sind auch hier die Agrar-Exportbestimmungen.
Dabei ist die Handelsbilanz zwischen Österreich und Ungarn seit Jahren
positiv für Österreich das durchaus auch Lebens- und
Genußmittel nach Ungarn exportiert , 1991 mit 3,265 Milliarden
S. Aus dem Verlauf der Verhandlungen geht klar hervor, wer hier wem Bedingungen
setzen kann und dies auch tut. Schließlich haben sich die Regierungschefs
Österreichs und Ungarns Anfang Oktober 1992 auf den mageren Kompromiß
geeinigt, ihre landwirtschaftlichen Importe aus dem anderen Land drei
Jahre lang jeweils um 10% zu steigern.(11) Die Verhandlungen sind übrigens bis heute nicht abgeschlossen.
Zu diesen sehr sperrigen ausländischen Märkten
gesellt sich eine von Jahr zu Jahr schrumpfende Inlandsnachfrage, bedingt
durch gestiegene Preise. Am Beispiel eines Grundnahrungsmittels, der Milch,
läßt sich dieser Prozeß studieren:
Der Milchverbrauch ist in Ungarn infolge der Preiserhöhungen
auf mehr als das Doppelte stark zurückgegangen, und zwar von
1987 auf 1990 um mehr als ein Viertel. Die Ursache dieser Preissteigerungen
war die Kürzung der staatlichen Subventionen auf beinahe die
Hälfte derer von 1987. Sie liegen damit prozentmäßig weit
unter dem, was in Mitgliedsstaaten der EG und EFTA bei Agrarsubventionen
üblich ist.(12) Die Freigabe der Milchpreise 1992 und die
Einführung der Mehrwertsteuer von 8% auf bisher von ihr ausgenommene
Grundnahrungsmittel wie Milch mit Anfang 1993 tun das ihrige, um diese
Entwicklung fortzusetzen.
Zu den verringerten Subventionen gesellen sich steigende Produktionskosten
für die Landwirtschaft, die sie durch Erhöhung der Agrar-Aufkaufspreise
weiterzugeben versucht. Durch die Umstellung des RGW-Handels auf Dollarbasis
hat sich das russische Erdöl und infolgedessen Benzin und Diesel
beinahe auf österreichisches Preisniveau verteuert. Der Kunstdünger
ist allein von 1989 auf 1990 um 60-85% teurer geworden, bedingt durch
gestiegene Produktionskosten und Importsteuern auf sowjetischen Kunstdünger.(13) Ähnliches gilt für Pflanzenschutzmittel, sogar
Wasser ist zu teuer: Obwohl die Dürre von 1992 diejenige von 1990
noch übertroffen hat, ist ein Ausbau der Bewässerungsanlagen
unwahrscheinlich. Sogar die bestehenden werden nicht gerne in Anspruch
genommen, wegen hoher Wassergebühren und Treibstoffpreise.(14)
Ein weiteres Problem für den Absatz im Inland stellen die Vertriebsorganisationen
dar. Die großen Lebensmittelkombinate, bis dahin sichere Aufkäufer,
sind selber ins Strudeln geraten, auch im Lebensmittelhandel gibt es Veränderungen,
die auf die Produzenten zurückschlagen. Die Anzahl der Lebensmittelgeschäfte
hat sich um 50% erhöht bei sinkendem Umsatz,(15) die bisherigen Greißler wurden privatisiert, die neuen
Besitzer verkaufen Lebensmittel nur mehr als einen Posten unter anderen,
und zwar, weil sie gesetzlich dazu verpflichtet sind. Beliebt ist westliche
Ware, auch wenn doppelt oder dreimal so teuer wie inländische: Die
Firma Meinl, die die Csemege-Kette aufgekauft hat, bezieht 1/4 ihres Angebots
aus dem Ausland,(16) bei manchen kleinen Geschäften liegt
der Anteil höher.
Erklärtes Ziel der Subventionskürzungen ist es, die Produzenten
dadurch zu Schrumpfung der Produktion zu bewegen, um die Überproduktion
zu stoppen.
Hier drängt sich die Frage auf: Was heißt eigentlich Überproduktion?
Haben die Leute in Ungarn und Umgebung die längste Zeit zuviel Lebensmittel
konsumiert, ohne es zu merken? Hat es eine Meinungsumfrage gegeben, in
der festgestellt wurde, daß jetzt alle auf einmal Diät halten
wollen? Keineswegs. Es verhält sich vielmehr so, daß ein leerer
Magen heute keinen Skandal mehr darstellt, mit dem oppositionelle Samisdat-Blätter
seinerzeit gegen den Sozialismus Propaganda gemacht haben. Inzwischen
ist klar, daß einzig und allein die Verfügung über Geld
den Zugang zu der Ware regelt, wer keines oder zuwenig hat, kann sich
daher auch nichts leisten. Die Härte dieses Maßstabes ist gerade
hier, bei den Lebensmitteln, auf die der Mensch nun einmal nicht verzichten
kann, besonders deutlich.
Die Folgen des neuen Kriteriums, dem der Konsum der Bewohner Osteuropas
unterworfen wird, wird übrigens auch nicht verschwiegen, nur werden
sie gar nicht als solche besprochen: Geht es um das Ausmalen des Mangels,
der in der Ukraine, Rußland und anderen traditionellen Importländern
von ungarischen Agrarprodukten herrscht, so ist das als Ausmalung der
Unfähigkeit der dortigen Politiker und Landwirte etc. zu verstehen:
Wie gut geht es doch den Ungarn vergleichsweise immer noch! Daß
unter anderem auch das ungarische Getreide und Geflügel dort fehlt,
dieser Gedanke verbietet sich von selbst und offenbart ein mangelndes
Verständnis der Gesetze der Marktwirtschaft.
Geht es um die mangelhafte Ernährung, die sich bei ungarischen Rentnern,
Arbeitslosen und inzwischen auch schon Schulkindern feststellen läßt,
so ist das ein Aufruf an soziale Institutionen, Ausgleichszahlungen oder
Ausspeisungen, Schulmilch usw. zu gewähren aber die Bebilderungen
des Elends und das Zitieren entsprechender Statistiken führen nie
zur Frage nach dem Grund dessen, warum sich wachsende Teile der Bevölkerung
nicht mehr die nötigen Nahrungsmittel leisten können. Denn:
Wer nicht zahlen kann, kann daher auch nicht essen! Das ist die Vernunft
der Marktwirtschaft, während die Unmenschlichkeit des Sozialismus
darin bestanden hat, der Bevölkerung billige Lebensmittel quasi aufzudrängen.
Die Landwirtschaft soll durch die Subventionskürzungen
gezwungen werden, auf besser verkäufliche Produkte umzusteigen, um
ihr Einkommen zu sichern.
Es wird dabei so getan, als wäre seinerzeit eine Fehlplanung bei
der Einrichtung der Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie geschehen,
die nun berichtigt werden muß. So ist es aber nicht. Die ungarische
Landwirtschaft hat sich als Lieferant von billigen und gefragten Lebensmitteln
jahrzehntelang bewährt und nicht überproduziert,
lediglich der Zweck, zu dem sie so eingerichtet worden ist und infolgedessen
die Umstände, mit denen sie konfrontiert war, haben sich geändert.
Wie darauf reagiert gehört, macht den Großteil der Streitigkeiten
zwischen den einzelnen Agrar-Kontrahenten aus.
Um auf andere Produkte umsteigen zu können, sind zunächst einmal
Investitionen erforderlich. Das ist aber genau das, was die durch die
mangelnden Verkaufsmöglichkeiten und Übernahme von Altschulden
verschuldeten Betriebe eben nicht leisten können. Die Produkträte,
die die landwirtschaftlichen Produzenten beraten sollen, welche Ware jetzt
gerade gefragt wäre, können daran auch nicht viel ändern.
Und dann: Auf welche Produkte sollen sie denn umstellen, um Verkaufsschlager
zu produzieren? Kiwi, Bananen und Orangen, als Symbole der Westöffnung
stark nachgefragte Güter, wachsen auf der Tiefebene nun einmal nicht,
bei anderen Produkten ist es aber fraglich, ob sie den Verkaufserfolg
bringen, der Weizen, Milch, Fleisch und deren verarbeiteten Produkten
versagt bleibt. Sie müssen genauso an mangelnder Kaufkraft und protektionistischen
Schranken scheitern wie die traditionellen landwirtschaftlichen Produkte
Ungarns.
Immer wieder wird hier die alte und dumme Leier strapaziert, nach der
es nur auf den Willen und die Gerissenheit ankommen soll: Wenn man nur
schlau ist, heißt es, so macht man gute Geschäfte, ungeachtet
mangelnder Mittel und Märkte, die etwas ganz Nebensächliches
darstellen und immer nur eine Ausrede sind für Leute, die nicht geschäftstüchtig
sind. Dieser als Behauptung formulierte Wunsch hat natürlich seine
Umkehrung: Die Leute, die ihr Zeug nicht gewinnbringend verkaufen können,
sind ungeschickt, dumm, durch lange Jahre des Sozialismus deformiert,
usw. Exemplarisch als Vertreter dieser Ansicht hat angesichts des Weizen-Überangebots
von 1991 ein gewisser János Demeter, Sachverständiger des
Landwirtschafts-Ministeriums, den Landwirten den schlauen Rat gegeben,
doch endlich! nach jahrelangem Zureden! statt Weizen Kukuruz anzubauen(17) die starrköpfigen Menschen hatten sich jedoch
den Rat längst zu Herzen genommen und konnten im Dezember mit einem
glänzendem Ergebnis aufwarten: Eine Rekordernte bei Kukuruz, die
nach ersten Befürchtungen das Ende vieler Betriebe bedeuten
kann,(18) da sich herausstellte, daß es für
Kukuruz weniger Absatzmöglichkeiten gibt als für Weizen. (Daß
sie den Kukuruz schließlich doch angebracht haben, steht auf einem
anderen Blatt, und hatte seine Ursache in Mißernten bei Kukuruz
in einigen westeuropäischen Ländern.)
Die Landwirtschaft wird natürlich durch den Entzug der Mittel um
nichts konkurrenzfähiger, sondern es wird notgedrungen gespart: Man
verwendet kaum mehr Dünger (1992 um 80% weniger als 1991) und Pflanzenschutzmittel,(19) kauft billigeres Saatgut bzw. verwendet nicht
spezielles Saatgut, sondern Teile der Vorjahrsernte.(20) Die Saatfläche wird verkleinert,
noch vor der Dürre des vergangenen Sommers wurde die Menge der gesamten
zu erwartenden Getreideernte auf 13 Millionen t geschätzt
gegenüber 15 Millionen t 1989.(21) Im August bereits gibt
es andere Meldungen: Die Rede ist von einer Schrumpfung von 31% gegenüber
dem Vorjahr, also 1991.(22) Kukuruz ist 1992 fast gar keiner
geerntet worden.
Der Maschinenpark der meisten Betriebe ist seit Jahren nicht mehr erneuert
worden. Oft reicht das Betriebskapital nicht einmal für die Reparaturen
an den bestehenden Geräten. Maschinen haben außerdem den Nachteil,
daß sie nachdrücklicher auf Fütterung beharren als Menschen.
Es ist schon vorgekommen, daß die Mitglieder einer Kooperative aus
ihrem privaten Sparstrumpf das Geld für den Treibstoff vorgeschossen
haben, um die Ernte einbringen zu können.
Oder es wird geschlachtet. Der Rinderbestand ist von 1991 auf 1992 um
14-20% gesunken, der Schweinebestand um 21% (teilweise als Dürrefolge
des Jahres 1990 der Kukuruz als Futtermittel war zu teuer),(23) der des Geflügels um 5-6%, im Jahr davor allerdings um
30%.(24)
Alle diese Maßnahmen führen natürlich
nicht nur zu quantitativer Verringerung der Produktion insgesamt
um 0,2% 1989, um 3,3% 1990, um 7-9% 1991,(25) sondern auch zu deutlichen Qualitätsverlusten.
Angesichts dessen mutet das Gejammer der zuständigen Politiker, die
ungarischen Landwirte müßten endlich lernen, auf Qualität
zu achten, weil nur so Exporte in den Westen gesichert werden könnten,(26) etwas absurd an. Auch hier
wird der Grund für die mangelnde Qualität verdreht, er soll
in der Vergangenheit liegen: die seinerzeitige Produktion sei nur auf
Masse und Billigkeit angelegt gewesen, unter Vernachlässigung der
Qualität. (Man beachte hier: billig ist ein Vorwurf an
die Produktion Qualität hingegen hat teuer zu sein!)
Selbst wenn die Qualität der bisherigen Agrarprodukte mit
der österreichische Einkaufstouristen übrigens durchaus zufrieden
sind wirklich zu wünschen übrig gelassen hätte,
sind den Produzenten inzwischen erst recht alle Möglichkeiten genommen,
um diese Qualität auch nur zu halten, geschweige denn zu verbessern.
Der Weltmarkt, auf den die ungarische Landwirtschaft aufgrund politischer
Entscheidungen geraten ist, kennt den Standpunkt der Versorgung
nicht. Deshalb existieren hungernde Afrikaner einerseits und Milchseen
oder übervolle Getreidelager in kapitalistischen Staaten andererseits
nebeneinander und kommen nicht zueinander. Lebensmittel verschenken, um
Leute satt zu machen, würde nämlich die Preise verderben und
das Geschäft zerstören, das mit den Lebensmitteln gemacht wird.
Denn der Markt, erst recht der Weltmarkt, ist die Sphäre des Geschäfts
und die nicht zahlungsfähige Nachfrage kommt dort gar nicht
vor.
Die Kollektivierung in Ungarn war genau dem Gegenteil dessen geschuldet,
sie sollte die Ernährung der Bevölkerung nicht den schwer kalkulierbaren
Erträgen von Kleinbauern und dem Geschäftsinteresse von Zwischenhändlern
aussetzen. Die Entscheidung von Rákosi & Co., zu kollektivieren,
war dabei keineswegs durch reine Menschenfreundlichkeit motiviert: Man
schrieb das Jahr 1949 und die ungarische Regierung hatte Großes
vor, aus Ungarn sollte eine Industrienation werden, und um die dabei notwendigen
Arbeitskräfte tauglich zu erhalten, wollten die damaligen Politiker
Ungarns die Versorgung mit erschwinglichen Nahrungsmitteln sicherstellen.
Die Grundlagen der Lebensmittelproduktion wurden unter staatliche Aufsicht
gestellt und die Landwirtschaft verlief von da an zentral geplant. Und
diesem Auftrag der Volksernährung ist sie bis zum Systemwechsel nachgekommen.
Jetzt finden sich die Agrarproduzenten mit einem neuen Auftrag konfrontiert,
er lautet: Bereichert Euch! damit wir dann durch Euch zu Steuergeldern
und Devisen kommen und sie können dieser neuen Aufgabe nicht
nachkommen. Es ist eben nicht so, daß eine sozialistische Wirtschaft
nur eine unproduktivere oder uneffizientere Abart der kapitalistischen
ist, der durch Beigabe von ein paar Tropfen Eigeninitiative auf die Sprünge
geholfen werden kann, sondern die gesamte Einrichtung der Produktion dient
einem ganz unterschiedlichen Anspruch: Versorgung und Geschäftemachen
schließen einander aus, und aus diesem Grund muß sich inzwischen
jedes Weizenkorn die Beschimpfung gefallen lassen, es sei aus falschen
Gründen mit falschen Methoden zustandegekommen und stelle eine einzige
Belastung der Wirtschaft dar. Obwohl das Körnchen selber sich in
nichts von seinen Artgenossen im Westen unterscheiden muß.
Die ungarische Regierung kennt nur
ein Allheilmittel:
Mehr privat, weniger Staat
Vor diesem Hintergrund spielt sich die Debatte um Wiedereinführung
des Privateigentums in der Landwirtschaft ab. Propagandistisch wird hier
alles aufgefahren, was gut und teuer ist. Der Chef der Kleinlandwirtepartei
unternimmt landesweit eine rührselige Kampagne für das Recht
auf Genugtuung ehemals enteigneter Bauern. Für alles, was in der
Landwirtschaft seit einigen Jahren schiefgeht, werden dunkle Machinationen
der Leiter der Kooperativen, der Grünen Barone, verantwortlich
gemacht, die angeblich an ihren Sesseln kleben, anstatt mit der Regierung
zusammenzuarbeiten. Sogar als Zuhälter werden sie von Politikern
der Regierungspartei(27) beschimpft.
Praktisch wird mittels zweier Gesetzeswerke mit
den bisherigen Verhältnissen aufgeräumt:
Die beiden Entschädigungsgesetze von 1991 und 92 sehen eine
Teilentschädigung für alle Enteignungen seit 1939 vor. Für
die Landwirtschaft ist vor allem das erste Entschädigungsgesetz wichtig:
Es betrifft die Enteignungen von 1945, übrigens unter dem
damaligen Landwirtschafts-Minister und später in der westlichen Propaganda
zum Freiheitshelden aufgestiegenen Imre Nagy , die den Großgrundbesitz
auflösten und den Boden in Parzellen an die Landbevölkerung
verteilten, sowie die Enteignungen von 1949, als im Zuge der Kollektivierung
die Besitzer ebendieser Parzellen ebenso wie die restlichen Kleinbauern
ihr Land in die Kooperativen einbrachten.
Je nach geschätztem Wert des Grundes erhält der frühere
Besitzer sofern er seinen Anspruch anmeldet eine gewisse
Summe in Form von Entschädigungsscheinen. Diese Entschädigungsscheine
kann er verkaufen, oder er kann damit auf Versteigerungen Land erwerben.
Ursprünglich geplante Bestimmungen darüber, daß der solchermaßen
erworbene Boden auch landwirtschaftlich genutzt werden muß, sind
fallengelassen worden solche Bestimmungen widersprechen dem Begriff
des Privateigentums, das eben der freien Verfügung des Eigentümers
anheimgestellt ist. Ebenso die Bestimmung, daß der neue Eigentümer
in der Gemeinde wohnen muß, wo sich der Grund befindet dies
würde einen Verstoß gegen das Grundrecht der Freizügigkeit
darstellen. Damit mit der möglichen Trennung von Eigentümer
und Landwirt ist die Grundrente, also die Möglichkeit,
aus der bloßen Verfügung über Grund und Boden ein
Einkommen zu beziehen, dem Prinzip nach wieder in die ungarische Landwirtschaft
eingeführt. Daß es auch Leute gibt, die darauf spekulieren,
also sich durch Verpachtung ein Einkommen sichern wollen, zeigt die Bemerkung
eines Agrarfachmannes, daß viele der Aufkäufe bei Versteigerungen
durch Personen erfolgen, die bisher nicht in der Landwirtschaft tätig
waren, z.B. Rechtsanwälte.(28)
In diesem Zusammenhang wird in der öffentlichen Diskussion das Problem
des Wertes des Grundes gewälzt. Denn die Grundlage der Schätzpreise
ist ein Wert in Goldkronen aus dem 18. Jahrhundert. Diese Bemessungsgrundlage
ist scheinbar absurd, sie ist jedoch genauso gut wie jede andere, denn
Boden hat zunächst einmal überhaupt keinen Wert, genausowenig
wie Luft, Wasser und andere natürliche Voraussetzungen der
Produktion. Unter der Bedingung, daß Privateigentum sein soll, wird
ihm ein Wert verliehen, der sich an den zu erwartenden Erträgen orientiert.
Etwas Besseres als das Urbarium Maria Theresias, das zur Verhinderung
des Bauernlegens den Wert der Leibeigenen-Gründe bestimmt hat, haben
die ungarischen Landwirtschafts-Politiker offenbar nicht gefunden. Fest
steht nur: Die Erträge der Kooperativen, zeitlich etwas näherliegend,
wollten sie nicht zur Grundlage nehmen.
Die landwirtschaftlichen Genossenschaften sollen aufgelöst und der
Boden in Privatbesitz überführt werden. Ein entsprechendes Gesetz,
das sogenannte Übergangsgesetz für die Genossenschaften,
ist Anfang 1992 erlassen worden. Demnach sollen die Mitglieder der Genossenschaft
mitsamt ihrem Grund, mit dem sie seinerzeit bei der Zwangskollektivierung
in die Kooperative eingetreten sind, aus dieser wieder austreten. Zusätzlich
steht ihnen ein Teil des genossenschaftlichen Vermögens (Maschinen,
Chemikalien, Gebäude, Vieh usw.) zu, deren Übergabe aber zum
Teil durch den Charakter der Immobilie, teils durch die nicht vorhandenen
Finanzmittel der Kooperativen gewisse Grenzen gesetzt sind.
Es gibt Gesetzesvorschläge, den Aufkauf des Bodens durch Ausländer
zu beschränken oder zu unterbinden, bei denen auch antisemitische
Töne nicht fehlen Israel hetzt seine überschüssigen
Sowjeteinwanderer auf unsere gute Erde!(29) die aber
auf die Dauer nicht haltbar sind. Denn das Kapital, das für eine
privatwirtschaftliche Landwirtschaft auf großer Stufenleiter unabdingbar
ist, gibt es eben nur im Ausland. In Österreich wird bereits für
Grundkauf in Ungarn geworben: Beste Böden, viel billiger als in Österreich
und überhaupt nicht überdüngt.(30)
Angebot (viel) und Nachfrage (wenig) tun hier ihre Wirkung: Viele der
neuen Grundbesitzer werden anscheinend ihres Besitzes nicht froh und verkaufen
ihn zu einem Spottpreis,(31) also zumindest unter
dem gesetzlich festgelegten Schätzwert.
Die Versteigerungen des Grundes, die seit Herbst 1992 stattfinden, haben
bisher ein Ergebnis: Die Genossenschaften bewirtschaften das zum Verkauf
ausgeschriebene Land nicht mehr, säen kein Wintergetreide, sodaß
eine weitere Verringerung der Saatfläche stattfindet.
Die Entscheidung des Staates, die Grundbedingung für
die kapitalistische Konkurrenz, das Privateigentum, einzurichten und sich
dann aus der Wirtschaft zurückzuziehen, damit dieses Eigentum
seine angeblich wohltätige Wirkung entfalten möge, führt
zwar in allen Sparten zu Produktionsrückgang, Konkursen, usw. Dieses
Verfahren birgt jedoch gerade in der Landwirtschaft das Risiko in sich,
die Grundlagen des Staates zu gefährden: Die Lebensmittel sind nun
einmal strategische Güter, an denen die Funktionalität der gesamten
Bevölkerung hängt. Es kann der Regierung daher nicht gleichgültig
sein, wenn die landwirtschaftliche Produktion in Quantität und Qualität
solche Einbußen erleidet, wie zur Zeit die ungarische, sondern sie
sieht sich genötigt, erneut einzugreifen, sowohl mit finanziellen
Stützungen, als auch mit gesetzlichen Maßnahmen:
Die Landwirtschaft und ihre Umgestaltung
belasten Staatshaushalt und Kreditwesen
So sehr die Privatisierung von Grund und Boden und die
Verpflichtung auf den freien Markt durch Abbau der Subventionen auch ein
ureigenstes Anliegen der ungarischen Regierungspolitiker ist, so ernsthaft
ihre Bemühungen, jegliche Erinnerung daran zu tilgen, daß es
ein Stück Ökonomie im Sozialismus gegeben hat, das tatsächlich
gut funktioniert hat; so soll doch nicht übersehen werden,
daß diese Regierung in der Frage der Landwirtschaft nicht viel Handlungsspielraum
besitzt: Zu den Auflagen des IWF, denen sich Ungarn seiner hohen Auslandsschulden
wegen nicht entziehen kann, gehört eine Obergrenze der Staatsverschuldung
von 5% des BNP. Das ist für Ungarn ein Ding der Unmöglichkeit,
noch dazu bei ständig rückläufiger Produktion. Die 5% sind
also im weiteren Sinne als Vorschrift und Druckmittel gedacht, die Staatsverschuldung
möglichst gering zu halten. (Um z.B. die 1990 und 1992 dürregeschädigten
Landwirte in irgendeiner Form unterstützen zu können, mußte
Ungarn um Sondervollmachten beim IWF ansuchen.) Die Regierung versucht
daher, wo sie nur kann, ihre Ausgaben zu kürzen und ihre Einnahmen
zu steigern. Wo früher Subventionen erteilt wurden, sind jetzt Steuern
und Abgaben verlangt.
Diese Praxis trifft die Landwirtschaft hart, denn es handelt sich hier
um eine Sparte der Ökonomie, die sogar in kapitalistischen Staaten
besonders hoch subventioniert wird. (So werden die Agrarprodukte in EG-Staaten
mit 40%, in den EFTA-Staaten mit 65% gestützt.)(32)
Eine neue Landwirtschafts-Marktordnung soll Abhilfe schaffen. Die
bisherige Marktordnung hat vor allem durch Interventionskäufe und
Preisfestlegungen dafür gesorgt, daß die Aufkaufspreise für
Agrarprodukte niedrig geblieben sind.(33) Das ist immer noch billiger als Aufkaufsgarantien für die
selben Produkte. Außerdem wurden Ausfuhrverbote erlassen, sobald
die Inlandsversorgung gefährdet schien.
Die Rede ist nun davon, daß Kontigente für Milch, Kukuruz und
Weizen eingerichtet und in diesem Rahmen Aufkaufsgarantien wiedereingeführt
werden sollen, damit die Landwirte zumindest irgendwelche kalkulierbaren
Einkünfte vor Augen haben können. Das Gesetzeswerk ist für
1993 geplant, und es ist noch gar nicht klar, welches Ministerium die
notwendigen Gelder zu Verfügung stellt.(34) Der zuständige
Staatssekretär des Landwirtschaftsministeriums hat die die Marschrichtung
für dieses neue Gesetzeswerk bereits vorgegeben: Es soll die
Landwirte zu den sparsamsten Lösungen veranlassen.(35) Damit unterscheidet es sich nicht sehr von der bisherigen
Marktordnung.
Die einander widersprechenden Aufgaben dieser geplanten Marktordnungsreform
bestehen darin, die Einkommen der Landwirtschaft zumindest in einem solchen
Ausmaß zu sichern, daß die Produktion fortgesetzt werden kann,
gleichzeitig die Versorgung der Bevölkerung in einem solchen Ausmaß
und zu solchen Preisen zu garantieren, daß es nicht zu Hungerrevolten,
Plünderungen kommt und das, ohne den Staatshaushalt zu belasten.
Es ist abzusehen, daß es zumindest letzteres nicht ganz gelingen
wird.
Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Verschuldung
der Kooperativen und ihrer geplanten Auflösung. Gegen zahlreiche
Kooperativen wurde bereits der Konkurs eingeleitet(36)
was wird aus diesen Schulden, wenn privatisiert wird? Die zukünftigen
Kleineigentümer können damit nicht belastet werden. Zwingt man
die Banken, bei denen diese Schulden aufgelaufen sind, sie zu streichen,
so gefährdet das das ohnehin auf unsicheren Füßen stehende
Kreditwesen Ungarns. Übernimmt der Staat diese Schulden, so belastet
er das Budget durch uneinbringliche Außenstände.
Die Entschädigungsscheine haben, wie nicht
anders zu erwarten, wenige dazu angestachelt, sich als freie Kleinbauern
zu versuchen sie sind dafür zu einem Ersatz-Zahlungsmittel
geworden, das von diversen Broker-Firmen zu ungefähr 3/4 des Nennwerts
in Bargeld oder Einkaufsgutscheine verschiedener Firmen umgetauscht wird.
In vielen Geschäften, aber auch bei Kauf von Immobilien aller Art
kann in Entschädigungsscheinen gezahlt werden. Damit hat die Entschädigung
bisher ein Ergebnis gehabt: Sie hat die Inflation angeheizt, indem sie
die Menge der umlaufenden Zahlungsmittel durch Ersatz-Banknoten erhöht
hat. Die Höhe dieser Geldersatz-Zettel belief sich am 1. 12. 1992
bereits auf 21 Milliarden Forint (fast 3 Milliarden Schilling), eine stattliche
Summe.
Zur Privatisierung anstehende Banken bieten ihre Aktien gegen Entschädigungsscheine
an, um nicht auf ihnen sitzenzubleiben. Die Entschädigungsscheine
sind seit Herbst 1992 auf der Budapester Börse zugelassen, wo sie
sehr gut zu den ganzen anderen Papieren passen, die dort kursieren und
hinter denen genausowenig reale Akkumulation steht wie hinter den Entschädigungsscheinen.
Die Entschädigungsscheine erhöhen kurzfristig die Kaufkraft,
führen aber bald zu einer Veränderung im Wertausdruck des Geldes,
um das man sich dann weniger kaufen kann. Sie sind also nichts, das der
(Agrar- oder Industrie-)Produktion zugute käme.
Einer Reform soll auch der Agrarkredit unterzogen
werden. Das alte staatliche Aufkaufssystem ist 1991 aufgelöst worden,
damit ist auch der Vorschuß-Kredit auf noch nicht eingebrachte Ernte
verschwunden. Gegenwärtig werden Hypothekarkredite zu einem Zinssatz
von 35-40% vergeben bei einem errechneten landwirtschaftlichen
Durchschnittseinkommen von 10%.(37) Es gibt einen Kreditrahmen,
den die ungarische Regierung extra für die Neuanfänger in der
Landwirtschaft bestimmt hat aber deren Kapitalschwäche schließt
sie oft vom Erhalt eines Kredites aus, weil sie nicht genügend Deckung
bieten können.(38) Jetzt sind der Landesverband der Sparkassen
und die Banken aufgerufen, sich auf eine neue Art von Kreditnehmern einzustellen
und denen auch Kredite zu geben: Kleinbauern ohne Eigenkapital und ohne
Erfahrung in Kreditdingen, die hilfesuchend ihren Rocksaum ergreifen
werden.(39) Das ist nicht
ganz die Art von Kundschaft, die von Geldinstituten gemeinhin für
solid angesehen wird. Um sie ihnen dennoch schmackhaft zu machen, plant
die Regierung die Einführung von Kreditgarantien durch die Gemeindeverwaltungen
oder andere regionale Organisationen, also letzten Endes wieder
durch den Staatshaushalt.
Das Ergebnis all dessen ist, daß die Regierung
zwar die Subventionen gekürzt und dadurch die Krise im Agrarsektor
verschärft hat, aber sich selbst kaum etwas erspart hat. An anderer
Stelle muß der Staat doch wieder intervenieren und Mittel zur Verfügung
stellen, um Schlimmeres zu vermeiden. Und dieses Löcherstopfen ist
das ziemliche Gegenteil dessen, was die Politiker Ungarns durch Einführung
der Marktwirtschaft erreichen wollen: Daß die Produktion profitabel
wird und der Staat dadurch in erhöhtem Maße über Mittel
verfügt.
Das Ergebnis des ganzen: Schaden garantiert, Nutzen fragwürdig
Die öffentliche Besprechung dieser
ganzen Widrigkeiten ist in dem Widerspruch befangen, daß die Einführung
des Privateigentums in der Landwirtschaft zwar begrüßt
wird, die unangenehmen Folgen dieses Schrittes aber als Probleme besprochen
werden, die man am liebsten vermeiden würde. Darin unterscheiden
sich die radikalen Regierungskritiker, wie die Vertreter des Agrarbundes
oder der Oppositionspartei FIDESZ, nicht von den Regierungsvertretern
im Landwirtschaftsministerium und deren Anhängern.
Als Wunschtraum wird immer die moderne Farm-Wirtschaft
genannt sie gilt als Inbegriff der Effizienz. Unter
diesem Stichwort werden die guten Geschäfte bewundert, die amerikanische
Farmer mit ihrem Getreide und Hornvieh machen. Daß diese Produkte
überhaupt nicht für die Bevölkerung der USA da sind, die
einen für eine kapitalistische Industrienation ungewöhnlich
hohen Anteil von unterernährten Bürgern aufweisen, ist den Anhängern
der Farm-Wirtschaft klar. Somit würde eine effiziente Farm-Wirtschaft
auch den ungarischen Konsumenten nichts Gutes verheißen.
Es ist den Kommentatoren freilich auch nicht entgangen, daß die
amerikanischen Farmer im Unterschied zu den bisherigen Angestellten ungarischer
Kooperativen und anderen potentiellen Eigentümern über Betriebskapital
verfügen. Da also privat und effizient
gleichzeitig in Ungarn nicht zu haben ist, so enden diese Vergleiche meistens
mit der bedauernden Schlußfolgerung, daß man dann zwar über
eine uneffiziente Landwirtschaft verfügt, die nicht einmal den Produzenten
sein Auskommen sichert, die aber wenigstens dem Menschenrecht auf Privateigentum
entspricht.
Das Elend auf dem Land hat Ungarn in der
Zwischenkriegszeit den Ruf eingetragen, das Land der 3 Millionen
Bettler zu sein. Die Maßnahmen der Regierung sind dazu angetan,
diesen Zustand schnellstmöglich wieder herbeizuführen. Allerdings
war damals die Besitzstruktur in der Landwirtschaft durch den Großgrundbesitz
geprägt die 3 Millionen Bettler stellten die besitzlosen Landarbeiter.
Großgrundbesitz kann heute nur entstehen, wenn ausländisches
Kapital sich in der ungarischen Landwirtschaft einkauft im Inland
gibt es keine zahlungsfähige Nachfrage. Aber ausländische Investoren
wären mit den gleichen Exportbeschränkungen konfrontiert wie
die bisherigen Kooperativen. Es darf also bezweifelt werden, daß
aus dem Ausland eine besondere Nachfrage nach ungarischem Grund und Boden
auftreten wird.
Also wird das Parzellenunwesen die zukünftige ungarische Landwirtschaft
dominieren, die unproduktivste Form der Bewirtschaftung, die gleichzeitig
mit dem höchsten Verschleiß an menschlicher Arbeitskraft einhergeht.
Denn Familienbetriebe ohne Eigenkapital, die auf einer Briefmarke Landwirtschaft
betreiben, können sich die Geräte weder leisten noch ausnützen,
die bisher für die landwirtschaftliche Produktion eingesetzt wurden.
Also wird statt Traktor und Egge die gute alte Spitzhacke wieder zu Ehren
kommen, statt Pflanzenschutzmitteln das gute alte und biologisch
einwandfreie! Unkrautjäten. Auch an anderer Stelle läßt
sich noch sparen: Das Schwein kriegt die Haushaltsabfälle, die Kuh
weidet am Bahndamm. Vielleicht nimmt man im Winter die Kleintiere zu sich
in die gute Stube das spart Heizkosten.
Und da für solche Kleinbauern auch Arbeitslohn teuer ist, wird sich
der im sozialistischen Ungarn nicht übliche Einsatz
der eigenen Kinder als kostenlose Arbeitskräfte bei diesen diversen
Tätigkeiten einbürgern. Dabei ist die menschliche Arbeitskraft
in Ungarn die einzige Ware, die ständig billiger wird, es gibt von
Jahr zu Jahr mehr Arbeitslose aller Alters- und Berufsgruppen und offen
ausgesprochene Hoffnungen diverser Regierungspolitiker, die Landwirtschaft
möge diese überschüssigen Menschen aufsaugen,
als Selbstversorger irgendwo dahinwerkeln lassen, damit nicht die touristischen
Zentren durch sie verschandelt werden. Auch dieser wenig idyllische Wunschtraum
wird von Fachleuten dementiert: Die Produktionskosten sind heute so beschaffen,
daß jeder Landwirt für den Markt produzieren muß, weil
er über Bargeld verfügen muß, um Dünger, Energie,
Grundsteuer usw. bezahlen zu können.(40)
Die im letzten Jahr öfters laut gewordene Befürchtung, die Deckung
des Inlandsbedarfs könne gefährdet sein, entbehrt dabei
jeder Grundlage. Einen Inlandsbedarf in der Art von Verbrauch pro
Kopf, der gedeckt werden müßte, gibt es nicht mehr. Der
Inlandsbedarf wird dadurch bestimmt, was die Leute sich leisten können.
Die Kaufkraft in Ungarn schwindet von Jahr zu Jahr, damit werden auch
weniger oder billigere Lebensmittel nachgefragt. Aber auch auf diesem
Markt ist die ungarische Landwirtschaft schon lange nicht mehr der alleinige
Herr, sondern muß mit ausländischen Agrarproduzenten konkurrieren,
die ihre Waren auf dem von ihnen als dynamisch bezeichneten Markt absetzen.
Sodaß der ungarische Staat, der sich von der Öffnung gegenüber
dem Westen vor allem Technologie-Importe und Investoren, die die Produktion
modernisieren, versprochen hat, nicht nur in dieser Frage durch die Finger
schaut: Ein jährlich wachsender Teil der Devisenimporte geht für
Lebens- und Genußmittel auf, die die Handelsbilanz belasten und
die Wirtschaft nicht voranbringen, sondern unproduktiv verzehrt werden.
Im Export kann die ungarische Landwirtschaft, was die agrarpolitisch definierte
Qualität (Größe, Länge, Geradheit, Rundheit
usw. lauter quantitative Bestimmungen) betrifft, nicht mit Agrarproduzenten
wie z.B. Holland, Frankreich oder den USA konkurrieren. Es kann sie höchstens
im Preis unterbieten, indem der Staat die Produktionskosten, die in Forint
anfallen, gar nicht ins Verhältnis setzt zu den Devisen, die er damit
erwirtschaftet, und die er schon für den Schuldendienst dringend
braucht. Das ist eine Exportpraxis, die die Staaten der Dritten Welt seit
Jahrzehnten praktizieren und die das Eingeständnis der Weltmarktuntauglichkeit
der eigenen Nationalökonomie und Währung ist die solchermaßen
wiederum ständig reproduziert wird: Ungarn wird also zu einer Bananenrepublik
für Getreide und Schweinefleisch, was von ziemlich rücksichtsloser
Vernutzung der landwirtschaftlichen Arbeitskraft begleitet ist. Das ist
der Preis für die Mitgliedschaft im goldenen Westen, für die
FREIHEIT.
________________________________________________________________________
(1) Mez#gazdasági
statisztikai zsebkönyv 1989 Statistisches Handbuch
für die LW
(2) Népszabadság ungarische
Tageszeitung, 29.7. 1992
(3) HVG ungarische Wochenzeitschrift für Wirtschaftsfragen
16/1992
(4) Népszabadság, 13. 6.1992
(5) Népszabadság,
18. 11. 1992
(6) HVG 8/1992
(7) HVG 43/1991
(8) Népszabadság, 7. 12. 92
(9) HVG 1/1992<
(10) HVG 9/1992
(11) Salzburger Nachrichten, 11. 11.
92
(12) HVG 3/1991
(13) HVG 23/1990
(14) HVG 24/1992
(15) Salzburger Nachrichten,
5. 8. 92
(16) HVG 29/1992
(17) HVG 26/1991
(18) HVG 39/1991
(19) HVG 39/1991 und 14/1992
(20) HVG 50/1991 und
Népszabadság, 9.5. 1992
(21) HVG 14/1992
(22) HVG 33/1992
(23) HVG
38/1990
(24) HVG 12/1992 und 36/1992
(25) WIFO-Studie; in: Salzburger
Nachrichten, 14. 11. 1992
(26) Népszabadság, 16. 9. 1992
(27) HVG 49/1992
(28) HVG 37/1992
(29) HVG 45/1992
(30) Presse, 28. 11. 1992
(31) HVG 37/1992
(32) HVG 48/1992
(33) Népszabadság, 18.
11. 1992
(34) HVG 42/1992
(35) Népszabadság,
7. 12. 1992
(36) HVG 33/1992
(37) HVG 33/1992
(38) HVG 8/1991
(39) Népszabadság, 14. 9. 1992
(40) Népszabadság,
29.7.1992
(Erschienen in: EUROPAEISCHE RUNDSCHAU 2/93. Die gedruckte Version des Artikels wurde gekürzt. Die vorliegende
Version ist die ursprüngliche, ungekürzte.)
Als eine Art Fortsetzung: „Enteignung“ österreichischer Landwirte in Ungarn?! (2014) |