CHILE IM JAHR 94 (1)

 

Einleitung: Die sogenannte 3. Welt heute – weder Gegenstand linker noch sonstiger Kritik

Über das Getöse um die diversen „Sorgenkinder“ der Neuen Weltordnung, die unbedingt mit Militäreinsatz betreut werden müssen, ist das, was in den alten Hinterhöfen des Imperialismus der Normalfall ist, ziemlich uninteressant geworden. Während früher Armut und Elend und die rauhen Umgangsformen der Regierungen mit dem eigenen Volk, die in diversen Weltgegenden der südlichen Hemisphäre anzutreffen sind, des öfteren Anlaß zu Kritik waren, macht sich heute eine gewisse Abgeklärtheit gegenüber diesen Phänomenen breit: Bei diesen Staaten seien irgendwann die Weichen falsch gestellt worden, sie seien nicht unter-, sondern eigentlich überentwickelt worden.

Auch eine interessante Entwicklung: Früher wurde behauptet, die Investitionen amerikanischer, europäischer und japanischer Firmen in den Ländern Afrikas und Lateinamerikas und die in Form von Entwicklungs- und Militärhilfe sowie Krediten dorthin gepumpten Gelder dienten dem hehren Ziel, diese Nationalökonomien auf den Stand der imperialistischen Nationen zu heben. Das war eine Lüge: Diese (Sub-)Kontinente sind nämlich genauso entwickelt, wie das internationale Kapital sie braucht: Als Lieferanten von Agrarprodukten, Rohstoffen und als Betreiber von Industrie, die zu umweltschädlich ist, um in den Heimatländern des Kapitals zugelassen zu werden.

Heute wird mit der gleichen Unverfrorenheit behauptet, die solchermaßen hochgezogenen Wirtschaftszweige, die der Bevölkerung dieser Länder mehrheitlich nichts gebracht, von denen aber nicht einmal die dortigen Staaten viel gehabt haben außer einem Haufen Schulden, an denen sie fest weiter zahlen – diese Plantagen, Bergwerke und Straßen zum Abtransport der Produkte seien eine von den damit Beglückten schlecht genutzte Wohltat gewesen, mit der sie nicht nur nichts anzufangen verstanden hätten, sondern die sie nur zu ihrem Schaden verwendet hätten.

Weil sie die großzügig zur Verfügung gestellten Mittel falsch eingesetzt hätten, seien sie heute überschuldet. Und zwar deshalb, weil die Politiker dort alle korrupt sind und die armen Leute einfach zu viele Kinder machen. In ihren verzopften Sitten sind sie überhaupt unbelehrbar: Stammesrivalitäten, Machismo, religiöser Fanatismus usw. verbauen den Weg zu irgendwelchen Verbesserungen.

Folgerung: Die Empfänger der Entwicklungs- und anderer „Hilfen“ sind verantwortlich dafür, daß sie diese edlen Spenden verkehrt verwendet hätten. Die „Geber“, die mit diesen Krediten und Subventionen diese Ökonomien gerade für die Bedürfnisse der Industrieländer genauso zugerichtet haben, wie sie jetzt aussehen, sind in dieser Betrachtungsweise die Gefoppten, die von ihren Schützlingen übers Ohr gehauen worden sind.

Diese Diagnose, in der sämtliche ökonomischen und politischen Gegensätze in einem abschätzig-rassistischen Einheitsbrei getilgt sind, führt zu dem nicht minder zynischen Schluß, daß man denen da unten ohnehin nicht helfen kann – man hätte es ja probiert, aber mit negativen Resultaten –, daß sie letztlich an ihrem Elend selber schuld seien und die Aufgabe der verantwortlich denkenden Regierungen fortschrittlicher Staaten nur mehr darin bestehen kann, den Schaden, den die Bewohner Afrikas oder Lateinamerikas mit ihrer Existenz anrichten könnten, nach Möglichkeit zu begrenzen. Die 3. Welt – ein ökologisches Problem, ihre Einwohner – eine verantwortungslose Zeitbombe, die mit Brandrodung, Bevölkerungsexplosion und ähnlichen Dingen „unseren Fortschritt“ gefährdet – in dieser Diagnose sind sich amerikanische Senatoren, europäische Regierungspolitiker und grün-alternative Oppositionelle inzwischen einig. Dementsprechend ist das Interesse an diesem Teil der Welt und den dort stattfindenden Ereignissen geartet: sie sind kein Thema mehr, – es sei denn, es kracht gerade wieder einmal und einer der Staaten, die heute die Welt beherrschen, erklärt sich dafür zuständig.

Dieser Wechsel in der Betrachtungsweise der Öffentlichkeit ist den weltpolitischen Veränderungen der letzten Jahre geschuldet. Die Regierungen der Staaten der 3. Welt haben ja auch früher nicht viel zu melden gehabt, ihre ökonomische Zurichtung hatte stets den Bedürfnissen der Ökonomien der 1. Welt zu dienen. Gegen diesen Würgegriff der westlichen Geheimdienste, Militärs und Firmen gab es aber über 40 Jahre lang eine Alternative, mit der sich manche Staaten auch eingelassen haben. Kuba und Vietnam sind mit mehr oder weniger großem Erfolg dem postkolonialen Status des souveränen Lieferantenstaates entkommen und diverse arabische und schwarzafrikanische Staaten schmückten sich ebenfalls mit dem Attribut „sozialistisch“. Wie weit diese Bezeichnung das trifft, was im Inneren dieser Staaten getrieben wurde, sei hier einmal dahingestellt. Tatsache war, daß sie sich mit dieser Bezeichnung außenpolitisch an die Sowjetunion angelehnt haben, als deren Verbündete betrachtet und behandelt wurden.

Was die SU mit ihnen vorhatte und wie sie dieses Vorhaben betrieben hat, soll hier nicht behandelt werden. Festzuhalten ist: Die Staaten der 3. Welt waren all die Jahre seit dem 2. Weltkrieg das Schlachtfeld, auf dem Einflußsphären zwischen Ost und West, zwischen der SU und den NATO-Staaten abgesteckt und bestritten wurden. Das ist die Grundlage der „Stellvertreterkriege“, die in dieser langen Periode des Weltfriedens in nicht gerade kleiner Zahl abgewickelt wurden.

Mit diesem Treiben ist es jetzt vorbei. Die Weltmacht Nr. 2 hat ihre Staatsraison aufgegeben und dementsprechend auch ihre Außenpolitik modifiziert. Den letzten Staaten, die ihrem wie immer gearteten Sozialismus noch nicht abgeschworen haben, soll nach dem Willen der verbliebenen Weltmacht baldmöglichst der Garaus gemacht werden. Der Rest ist eingeordnet und funktioniert mehr oder weniger im Sinne der tonangebenden Staaten.

Eine Folge davon ist, daß gewisse Kredite und Hilfen dorthin spärlicher fließen. Der Grund dieser Hilfen war nämlich: Dieser oder jener Staat soll unsere Bastion in der Region sein, deswegen braucht er entsprechende Mittel, um mit seiner eigenen Bevölkerung fertig zu werden und gegebenenfalls einen mißliebigen Nachbarstaat zu destabilisieren.

Mit der Einschränkung oder überhaupt Streichung der Militärhilfe ist manchen dieser Länder die Grundlage ihrer Staatlichkeit abhanden gekommen – sie zerfallen, spalten sich auf, verfallen in Bürgerkrieg. Einmal wird ein Trara drum gemacht, wie bei Somalia oder Ruanda. Ein andermal sind sie gerade für Kleinspaltenmeldungen gut, wie Afghanistan oder Liberia. Im großen und ganzen stehen die imperialistischen Nationen diesem Ergebnis ihrer jahrzehntelangen Betreuung recht gelassen gegenüber – das bißchen Öl, Zinn oder Kaffee oder was auch immer, das sie von dort beziehen, scheint auch so an seinen Bestimmungsort zu gelangen, und mehr will man in den USA, Europa und Japan von den Staaten der südlichen Hemisphäre auch gar nicht. Wenn es doch einmal eine Aktion gibt, so ist diese der entzwischen entfachten Konkurrenz zwischen den Staaten der 1. Welt geschuldet und nicht der Sorge um die Geschehnisse in dem von UNO-Betreuung betroffenen Staat.

Im Jahre 1973 waren die Verhältnisse noch ganz anders.

 

1. Chile – ein Exempel für den Antikommunismus

In Chile ist einmal das „Experiment des friedlichen Überganges zum Sozialismus“ unternommen worden und dieses „Experiment“ ist angeblich „gescheitert“. Damit hatte Chile als Modell- und Vorbildland einer europäischen Linken, die sich gern an auswärtigen Kämpfen begeisterte, weil sie daheim nicht groß Anlaß zur Kritik fand, ausgedient. Die Dritt-Welt-Fans wandten sich anderen Hoffnungsträgern zu. (Später ereilte auch Kuba, Nicaragua und andere Länder dieses Schicksal.) Inzwischen ist diese Mode, in den Armenhäusern des Imperialismus Belege für die Berechtigung von sozialkritischen Tönen zu suchen, überhaupt ausgestorben. Systemkritik ist sowieso „out“, also kann man sich folgerichtig auch Beispiele für ihre Berechtigung sparen.

Die gewaltsame Absetzung der Volksfrontregierung in Chile und die Verfolgung aller Personen, die als Symphatisanten ihrer Anliegen verdächtig waren, waren nicht nur eine Bereinigung der Zustände in Chile, sondern ein Signal für ganz Lateinamerika: Keine sozialistischen Experimente im Hinterhof der USA! Es darf kein zweites Kuba geben! Selbst Präsident-Sein, Gewählt-Worden-Sein schützt nicht vor einschlägiger Behandlung! Das war auch eine Auskunft über die Interpretation des Begriffes „Demokratie“ in einem 3. Welt-Land: Eine Regierung ist genau dann legitim, wenn die USA sie als legitim betrachten, und die Rechtfertigung, das eigene Volk hätte ihr doch in demokratischen Wahlen die Ermächtigung verliehen, ist obsolet, wenn die Weltmacht Nr. 1 dieser Sichtweise nicht zustimmt.

Es war auch eine Auskunft über die Souveränität dieser Staaten: Die beziehen sie nämlich von außen, nicht aus ihrer eigenen Ökonomie, die ihnen gar nicht die Mittel für die Ausübung der Staatsmacht zur Verfügung stellt. Die Erträge dieser Ökonomie gehören nicht den dortigen Regierungen oder ihren einheimischen Geschäftsleuten, an deren Gewinn sich dann die Staatsgewalt nach ihrem Ermessen bedienen kann, sondern seit jeher schon den Käuferländern. Deren Interessen hat eine Regierung wie die Chiles willfährig zu sein, dann ist sie entweder demokratisch oder „auf dem Wege zur Demokratie“. Setzt sie diesen Interessen etwas entgegen, so muß die Demokratie vor ihrem Mißbrauch geschützt werden, am besten durch eine Militärregierung, die den „Übergang zu Demokratie“ in die Wege leiten soll. Solches wurde auch in Chile inszeniert.

Dann wurde Chile ein Modell für die andere Seite: Die chilenischen Gorillas setzten auf den amerikanischen Wirtschaftsideologen Friedman und dessen „chicago boys“ durften in Chile nach besten Kräften ihre Doktrin praktizieren, daß die Aufgabe des Staates nur darin bestünde, Recht und Ordnung aufrechtzuerhalten und das Wohlbefinden seiner Bürger den selbsttätigen Kräften der freien Marktwirtschaft anzuvertrauen.

Dieses „Experiment“ ist, wie man hört, angeblich erfolgreicher gewesen als das vorige. Unterschlagen wird dabei, daß die Friedman-Schüler ihre Tätigkeit in Chile 1982 einstellen mußten, nachdem das Land am Rande des Staatsbankrottes stand. Die monetaristische Theorie des „knappen Geldes“, das die Währung hart machen soll, gerät in einem Land wie Chile in der Praxis schnell in Widerspruch mit den Forderungen ausländischer Gläubiger, die in Devisen befriedigt werden wollen. Um diese Devisen zu erwirtschaften, mußte Chile seine eigene Währung für Subventionen und Exportstützungen strapazieren, was zu einer ziemlichen Inflation und alles andere als harten Währung geführt hat. Während die Pinochet-Regierung in den 70er Jahren mit der Liquidation sämtlicher sozialistischer Umtriebe beschäftigt war – Herstellung der „politischen Stabilität“ heißt das –, standen die 80er Jahre im Zeichen der Bemühung um die Wiedererlangung der Zahlungsfähigkeit und Kreditwürdigkeit Chiles. Dieser Punkt ist nach wie vor ein wichtiges Anliegen der chilenischen Wirtschaftspolitik: Die chilenischen Unternehmer werden über die nationalen Kreditzinsen dazu angehalten, bei ihrer Tätigkeit die Zahlungsfähigkeit des Staates nicht aufs Spiel zu setzen. Dieses Programm heißt „Ajuste“, Anpassung. Es wird also so getan, als seien die Kreditnöte Chiles nur eine vorübergehende Fehlentwicklung, die durch richtige Finanzpolitik wieder eingerenkt gehört.

Auf ökonomischem Gebiet hat Pinochets Regierung einiges geleistet, um Chile in erhöhtem Maße für den Export tauglich zu machen. Sie hat nämlich das Land einer genauen Betrachtung unterzogen, wo noch etwaige Devisen herauszuholen wären. Außer den traditionellen Rohstoffen wie Kupfer und anderen Bergbauprodukten hat sie den Export von land- und forstwirtschaftlichen Produkten nach Kräften in die Wege geleitet. Das hatte eine gewisse Veränderung der agrarischen Strukturen in Chile zur Grundlage, die man auch als großflächige Vertreibung der Landbevölkerung bezeichnen kann. Die halbwegs fruchtbaren Regionen im Süden Chiles sind eine mehr oder weniger große Obst- und Gemüseplantage, und die ehemaligen Bewohner dieser Zonen fristen ihr Dasein in den Elendsvierteln der Städte, sofern sie nicht als Arbeiter auf den Plantagen ihr zweifelhaftes Auskommen gefunden haben.

Das war keine besondere Gemeinheit dieser Regierung, die unbedingt Hungerleider schaffen wollte, sondern das angemessene Verfahren jedes Staates, der das Erzielen von Profit zum obersten Zweck auf seinem Territorium erklärt. Dort sind Leute, die einfach das auffuttern, was sie anbauen, ein Hindernis, und an ihre Stelle gehören Plantagen, die ihre Produkte für den Markt, also für den gewinnbringenden Verkauf erzeugen. In Südamerika und übrigens auch in Österreich existieren unproduktive Kleinbauern-Wirtschaften nur auf solchen Böden bzw. in solchen klimatischen Zonen, wo eine gewinnbringende Bestellung nicht möglich ist. Woanders stören sie und müssen daher „Landflucht“ betreiben, die ja nicht eine Flucht vor dem Land ist, sondern vor der Bestimmung, der dieses Land zugeführt wird.

Die Bergbauprodukte machen immer noch ungefähr die Hälfte der Exporterlöse aus, Chile verfügt über die umfangreichsten Kupfervorkommen der Welt und ist seit 1982 der größte Kupferproduzent der Welt. Um den reibungslosen Abbau dieses Rohstoffs zu gewährleisten, wird ein Großteil der Bergwerke von einer chilenischen staatlichen Gesellschaft, der CODELCO, betrieben. Heuer hat erstmals der privat betriebene Abbau den staatlichen überflügelt. Privat und Staat ist in diesem Falle kein Gegensatz. Es wird nämlich dafür Sorge getragen, daß der Anteil am Gewinn, der dem chilenischen Staat bleibt, gut angelegt ist: Während das Nationalisierungsprogramm der Volksfrontregierung den für Eigentümer und Investoren untolerierbaren Mangel aufwies, daß ein Teil der Exporterlöse der chilenischen Bevölkerung zugute kommen sollte, ist heute sichergestellt, daß diejenigen aus der Kupferproduktion stammenden Devisen, die in Chile verbleiben, in die richtigen Hände gelangen:

„Wie im Gesetz 13.196 festgelegt, muß die CODELCO für das erste Trimester dieses Jahres die Summe von 93,4 Millionen $ an die Streitkräfte abführen. Das entspricht 10% ihrer Verkaufseinnahmen.“ (2)

Eine weitere Devisenquelle hat sich Chile durch Erzeugung und Export von Waffen erschlossen. Das hat den großen Freund des chilenischen Volkes, die USA, ein wenig geärgert, weil Chile erstens weniger von dem Amis kauft und ihnen zweitens damit in der dortigen Region Konkurrenz macht. Die Verstimmung hat sich allerdings in Grenzen gehalten. Schließlich ist klar, daß diese Waffen aus chilenischer Erzeugung in keine falschen Hände geraten und der Stabilisierung der Regierungen Südamerikas genauso dienen wie die amerikanischen.

Für den Staat Chile hat diese Politik scheinbar Erfolg gehabt: Chile gilt als Musterland Lateinamerikas mit wachsender Industrieproduktion, vergleichsweise geringer Arbeitslosigkeit und großer politischer Stabilität – die „Rückkehr zur Demokratie“ konnte gewagt werden und hat sich gut angelassen. Das chilenische Militär ist eines der bestausgerüsteten und schlagkräftigsten Lateinamerikas. Chilenische Aktien notieren an der New Yorker Börse, Chile strebt – nicht ohne Chancen – den Beitritt zur NAFTA an. Chile – ein lateinamerikanischer „Tiger“?

 

2. Das Verhältnis von Kapital und Arbeit in Chile

Lohndrückerei war von Anfang an ein erklärtes Ziel der Militärregierung – niedrige Löhne sind eine Grundvoraussetzung dafür, Investoren in ein Land wie Chile zu locken. Bis voriges Jahr wurden die Mindestlöhne von Unternehmervereinigung, Gewerkschaftsverband und Regierung gemeinsam festgelegt. Letztere wollte dabei unbedingt mitreden – sie traute offenbar den Unternehmern zu, sie würden sich von den Arbeitervertretern zu überhöhten Löhnen erpressen lassen, die dem Image Chiles schaden könnten. Inzwischen scheint dieser Vorbehalt aufgegeben worden zu sein.

Über die neueren Varianten der Niedrigentlohnung und den Umgang mit dem Arbeitsvolk in Chile gibt ein Interview mit Pedro Lizara, dem Chef der chilenischen Industriellenvereinigung SOFOFA, Auskunft. Wenn Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft für Unternehmer ein Entlassungsgrund ist, wie vom Gewerkschaftsverband CUT behauptet wird, so bezeichnet er dies zwar als „Mißstand“ und „Ausnahme“, hat aber andererseits volles Verständnis dafür: Arbeiterorganisationen seien, wenn überhaupt, nur dort notwendig, wo der Betrieb zu groß sei, als daß „der Unternehmer sich individuell mit seinen Arbeitern verständigen kann.“ Gewerkschaften behindern nur den Fortschritt, und der geht allein vom „Markt“ aus:

„Es ist der Markt, der 1 Million 700.000 zusätzliche Arbeitsplätze in den letzten 10 Jahren geschaffen hat. Dadurch ist der Anteil der Arbeiter am Nationaleinkommen von 43% auf 49% gestiegen.“

Der Mindestlohn, den mehr als eine halbe Million verdient, beträgt 100.000 Pesos im Monat, das entspricht ca. 2.500 Schilling. In der Industrie betragen die Löhne im Schnitt um die Hälfte mehr, also 150.000 Pesos. Daß man davon in Chile nicht leben kann, gibt auch Lizara zu:

„Es wird ja auch immer gesagt, daß der Mindestlohn nicht zum Erhalt einer Familie vorgesehen ist, weil in Chile mehr als zwei Personen pro Familie arbeiten.“

Kinderarbeit ist also in Chile selbstverständlich und wird bei Lohnverhandlungen auch gleich miteinberechnet.

Ähnliche Bremser des Fortschrittes wie die Gewerkschaften sind Arbeitsgesetze, ein abschreckendes Beispiel dessen die Europäische Gemeinschaft:

„Die strengen Arbeitsgesetze sind es, die die Arbeitslosigkeit erhöhen.“

Dem – übrigens christdemokratischen – Gewerkschaftsführer Manuel Bustos, der bei einer Demonstration im Juli Arbeitsschutzgesetze und Kollektivverträge gefordert hat, bedeutet er unverhohlen, er möge sich vorsehen:

„Bustos hat ehrenwerte Absichten, in diesem Falle jedoch … macht er eine Front gegen die Unternehmer auf, die zu nichts Gutem führen wird. … Es ist unakzeptabel, in einem Land wie diesem zu einem Marsch gegen die Unternehmer aufzurufen. … Es ist eine Schande für das Land. … Es wäre eine Monstrosität, die Löhne für ganz Chile kollektiv auszuhandeln.“

Eine untragbare Sache für den Herrn Unternehmer sind die von dem Gewerkschaftsverband trotz alledem durchgesetzten Abfindungen. Sie liefern den Unternehmer den eigennützigen Berechnungen seines Arbeitsviehs aus:

„Warum muß der Betrieb den Arbeiter abfinden? Er hat ihm doch nichts getan. Im Gegenteil, er hat ihn in Arbeit gesetzt. … Heute, wo die Abfindung einen Monatslohn pro geleistetem Arbeitsjahr beträgt, macht ein Arbeiter nach 5 Jahren alles, um nur entlassen zu werden. … Dann nimmt er im Betrieb gegenüber sofort wieder eine Arbeit an. Das erlebe ich als Unternehmer immer wieder. Die 500.000 Pesos (12.500 S) legen sie auf die hohe Kante, oder sie reparieren etwas in ihrem Haus oder machen weiß Gott was mit dem Geld.“ (3)

Ein Arbeiter mit 5 Monats(mindest)löhnen in der Tasche – eine Gefahr für die freie Kalkulation der Unternehmer! Nur solche, denen bei Nichtannehmen einer Arbeit gleich der Hungertod droht, sind dem Vertreter des Kapitals recht.

Wer eine solche Sprache führt wie Pedro Lizara, ist sich seiner Sache sicher. Er weiß, daß die Regierung weiterhin dafür sorgen wird, die lohnabhängige Bevölkerung billig und willig zu erhalten. Es genügt, den der Regierungspartei angehörenden Gewerkschaftsführer – der übrigens auf besagter Demonstration von seinem Fußvolk wegen seiner offensichtlichen Packelei mit der Regierung ausgepfiffen wurde – klassenkämpferischerer Umtriebe zu bezichtigen, um diesen nachdenklich werden zu lassen. Vor nicht allzu langer Zeit war das ein Todesurteil für den Betroffenen. Auch heute könnte ein solcher Verdacht zumindest seiner Gesundheit sehr abträglich sein.

Ein guter Teil der Chilenen lebt in Elendsvierteln ohne Kanalisation oder Fließwasser. Zugegeben, verglichen mit Brasilien oder Mexico City sehen die alle noch ganz gut aus. Das kann man als Anlaß zur Freude nehmen, wenn einem danach ist. Die lokalen Behörden tun sich schwer, für diese Bezirke ärztliche Versorgung zu organisieren, weil kein Mensch mit irgendeiner Art von Ausbildung sich in einem solchen Viertel niederlassen will. Der unaufhaltsame Fortschritt in Chile äußert sich darin, daß jetzt mehr Bewohner dieser „Poblaciones“ ein Arbeitsverhältnis haben, ohne daß sich dadurch ihre Einkommenslage und damit der Zustand dieser Viertel wesentlich gebessert hätte. Der „Kampf gegen die Arbeitslosigkeit“ ist eben etwas anderes als Wohlstand für alle. Mehr Arbeit heißt nicht: mehr Lohn. Eine Verwechslung, der in Chile selbst übrigens kaum jemand aufgesessen ist.

 

3. Wirtschaftspolitik. Chile als Markt für Konsumgüter und Objekt von Spekulation

Das Lohnniveau und die Außenhandelsverträge der chilenischen Regierung bestimmen das Konsumverhalten der Chilenen. Am Beispiel der Schuhe: Die chilenische Schuhindustrie ist laut Zeitungsmeldungen durch Importe – angeblich Billigimporte aus dem südostasiatischen Raum – mehr oder weniger ruiniert worden. „Billig“ mögen diese Schuhe im Vergleich zu den heimischen gewesen sein, für den Konsumenten sind sie eine ziemliche Investition. Die Vermutung liegt nahe, daß die Genehmigung dieser Schuhimporte die Gegenleistung für die Importgenehmigung chilenischer Waren in die betreffenden Länder war. Ein Artikel, dessen Absatz gesichert ist – Schuhe braucht jeder – wird also aus dem Ausland eingeführt, obwohl er vorher im Inland hergestellt worden ist. Der Grund dafür ist nicht die vergleichsweise größere Billigkeit der importierten Waren, sondern der Umstand, daß sich hier Staaten, von denen Chile abhängig ist, einen Markt gesichert haben. Als Ergänzung zu dem Warenangebot gibt es an jeder zweiten Ecke einen Flickschuster, der davon kündet, daß Schuhe für den Durchschnitts-Chilenen eine nicht alltägliche Erwerbung sind und daher möglichst lange am Leben erhalten werden wollen. So wird die unproduktivere Wirtschaftsform, die unter dem irreführenden Namen „Unterentwicklung“ bekannt ist, nicht nur aufrechterhalten, sondern in diesem Fall überhaupt erst geschaffen: Statt industrieller Fertigung Handarbeit, statt Produktion für den eigenen Markt Import aus den Mutterländern des Kapitals.

Will der Chilene sich bekleiden, so stehen ihm zunächst Geschäfte, deren Angebote ebenfalls an das österreichische Preisniveau heranreichen, zur Verfügung. Ist seine Zahlungsfähigkeit dafür zu gering bemessen, so kann er zwischen zwei Alternativen wählen. Sie lauten: „Europäische Kleidung“ oder „Amerikanische Kleidung“ und in diesen Geschäften wird auf europäischen oder US-Flohmärkten zusammengekauftes Zeug mehr oder weniger preisgünstig verscherbelt. Ein ähnliches Bild wie beim Schuhwerk: Chile kann und darf keine Bekleidungsindustrie schaffen und aufrechterhalten, die der Zahlungsfähigkeit der dortigen Bevölkerung Rechnung tragen würde. Es muß Importe gestatten, die nicht eine nationale Industrie beflügeln, sondern sie verunmöglichen. Die Einfuhr ist entweder Ergebnis von Außenhandelsverträgen, oder eine schlichte Notwendigkeit, um auch den armen Schluckern im Land die Bekleidung zu ermöglichen. Und sogar hier sind die Staaten Europas und die USA erste Adresse und nicht die Länder in der näheren Umgebung Chiles, von denen einige durchaus preisgünstige Kleidungsstücke herstellen.

Die USA sind nicht nur der beste Freund, sondern auch der größte Handelspartner Chiles. Um einander noch näherzukommen, möchte Chile gerne der NAFTA beitreten. Auf das Angebot, der vom Präsidenten Argentiniens angeregten Freihandelszone MERCOSUR – zwischen Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay – beizutreten, reagiert Chile vergleichsweise kühl: Nach einigem Hin und Her ist der Präsident des Landes doch zu dem Treffen angereist, ganz verderben will man sichs auch nicht, sind doch Brasilien und Argentinien auch wichtige Handelspartner Chiles.

Aber die Botschaft, daß dieses Land nicht auf dergleichen Partner angewiesen ist, ist dabei doch offensichtlich gewesen: Chile hält sich für etwas Besseres als andere lateinamerikanische Staaten. Zu Unrecht: Genauso wie beim Nachbarn nebenan werden die Geschäfte in Chile von Einheimischen und Ausländern gemacht, die ihre Gewinne vornehmlich im Ausland anlegen, für deren Kapital Chile eine Durchgangs-, aber keine Endstation darstellt. Der Staat schaut dabei durch die Finger, kann sich an seiner Ökonomie nicht bedienen, weil seine Kreditschöpfung, also sein Staatskredit, gar nicht seinem eigenen Ermessen obliegt und seine Deviseneinnahmen schon von vornherein an die Gläubiger, ausländische Banken und internationale Kreditinstitutionen, verpfändet sind.

Chile hat keine Währung, die außerhalb der eigenen Landesgrenzen nachgefragt wird, kann sich also nicht frei verschulden wie die BRD oder die USA, die damit rechnen können, daß ihre Geldscheine auf der ganzen Welt Käufer finden. Nicht nur dem Umfang nach, auch der Einsetzbarkeit nach ist der chilenische Staatskredit sehr eingeschränkt: Außer für Polizistengehälter, Präsidentenpensionen und ähnliches, was sich innerhalb der Landesgrenzen abspielt, läßt sich der Peso kaum brauchen. Dafür ist er allerdings sehr wichtig, und deshalb wachen IWF und Weltbank auch darüber, daß dieses Geld in seiner Nützlichkeit für die Aufrechterhaltung des Standortes und Marktes Chile erhalten bleibt. Von denen, die darauf angewiesen sind, soll er angenommen werden, für die Unternehmer soll er halbwegs stabil sein, damit sie damit kalkulieren können. „Russische“ Zustände, eine sogenannte „galoppierende Inflation“ schrecken Investoren ab, auch wenn die Arbeiter noch so billig sind.

Während es für den Staat unentbehrliche Ausgaben gibt, sind seine Einnahmen keineswegs gesichert: Auch seine Steuerhoheit gerät sofort in Widerspruch mit der Absicht, Kapital mit günstigen Bedingungen ins Land zu locken, ebenso mit der Notwendigkeit, den Export der eigenen Produkte zu fördern, notfalls auch mit Subventionen. Damit sind alle Gründe gegeben, warum eine Währung wie diejenige Chiles stets einen starken Hang dazu hat, inflationär zu sein, gleichzeitig gerade dieser Hang mit allen Mitteln bekämpft werden muß.

Chile exportiert Rohstoffe und Agrarprodukte und importiert hauptsächlich Konsumgüter, hat also seinen inneren Markt anderen zur Verfügung gestellt, während sein Exportanteil an der Weltwirtschaft aus Artikeln besteht, deren Preise nicht nach der Kalkulation Kosten + Überschuß erstellt werden. Kupfer und Mangan, Edelhölzer und Kiwis sind Objekte der Spekulation, hier setzen die Abnehmer den Preis fest und die Produzenten können weder die gezahlten Arbeitslöhne noch die gemachten Investitionen noch den marktüblichen Gewinn geltend machen. Dieses Dilemma kratzt natürlich die internationalen Konzerne wenig: Sie trennen Kosten und Gewinn fein säuberlich voneinander, bestreiten erstere in „weichen“ Währungen und streifen letzteren in Devisen ein. Der Staat, auf dessen Territorium sich eine solche Rohstoffquelle befindet, hat dann dafür Sorge zu tragen, daß die Kosten des Abbaus sich mit den Profiten der Konzerne vertragen: Entweder er verbilligt seine Arbeiter oder er verbilligt seine Währung. Obwohl der Mensch, vor allem derjenige, der das Pech hat, in südamerikanischen Bergwerken zu arbeiten, viel aushält, hat ersteres seine physischen Grenzen. So sind diese Staaten bei aller Erbarmungslosigkeit gegenüber ihren Arbeitern genötigt, ihre Währung periodisch abzuwerten. An dieser Tatsache hat Chile bei und gerade wegen aller gezeigten Bereitwilligkeit, den Interessen des internationalen Kapitals kein Hindernis in den Weg zu legen, nichts ändern können.

Für diejenigen Industriebetriebe, die nicht zu den obigen gehören, stellt Chile ein Durchgangsstadium in der Verwertung des Kapitals dar. Die vollständige Liberalisierung des Devisenverkehrs sorgt dafür, daß diverse internationale Unternehmen die billigen chilenischen Löhne und die kaum vorhandenen Umweltschutzgesetze ausnützen können, um ihre Waren entweder gleich im zahlungskräftigen Ausland abzusetzen oder auch in Chile gemachte Gewinne in Devisen umzutauschen. Solche Unternehmen verarmen die Staatskasse, berauben sie ihrer Devisenreserven und tragen das ihrige dazu bei, daß Santiago die zweithöchste Luftverschmutzung Lateinamerikas aufweist – nach Mexico City.

Bleibt noch die Sphäre der Finanzspekulation. Chile genießt als Freund der USA und wegen seiner politischen Stabilität großes Vertrauen des IWF und der Weltbank und infolgedessen auch der privaten Banken. Zudem hat die chilenische Regierung – noch ein Überbleibsel des Wirkens der „Chicago Boys“ – nach US-Vorbild aus Armut Zahlungsfähigkeit gemacht: Sie hat die Pensionsvorsorge privatisiert und die so entstandenen privaten Pensionsfonds spekulieren munter mit diesem Geld. Jeder arbeitende Chilene muß einem dieser Fonds, den er sich aussuchen darf, 10% seines Lohnes überlassen. Die Erfolgsmeldungen lassen nicht auf sich warten:

„Heute, nachdem dieses Programm bereits seit 10 Jahren läuft, verfügt das System (der Fonds) über 19.220 Millionen $, eine Summe, die die Sparrate Chiles in die Nähe derer der asiatischen Nationen rückt.“

Diese Form der Pensionsvorsorge nennt einer der chilenischen Zuständigen „den Arbeitern das Vorsorgesystem zurückgeben.“ Nordamerikanische Analysten sehen das ganze etwas nüchterner:

„Die autoritäre Macht der Ex-Militärregierung spielte eine entscheidende Rolle bei der Akkumulation des enormen Haushaltsüberschusses, der für den Start dieses Planes notwendig war, ebenso dafür, die Arbeiter zu der Teilnahme daran zu verpflichten.“ (4)

Die Gewalt und der Staatskredit Chiles sind also auch hier Pate gestanden, um dem internationalen Finanzkapital auf diesem „emerging market“ eine Spielwiese zu verschaffen. Sogar die CA spekuliert dort. Dieser Boom hält natürlich nur so lange an, als die Wall Street und verwandte Körperschaften Chile vertrauen, und das tun sie nur so lange, als sie dort Gewinne machen. Soviel nur gegen die Vorstellung, diese Spekulation würde sich irgendwie für Chile zu Buche schlagen.

 

4. Außenpolitik und Grenzfragen

Mit seinen Nachbarn unterhält Chile ein gespanntes bis schlechtes Verhältnis. Mit Bolivien gibt es seit einem von letzterem verlorenen Krieg im vorigen Jahrhundert keine diplomatischen Beziehungen. Den erst vor einigen Jahren geschlossenen Vertrag mit Peru zur Anerkennung der gemeinsamen Grenze hat Chile, was seine dabei übernommenen Verpflichtungen betrifft, nie in Kraft gesetzt. Mit Argentinien wurde gerade ein solcher Vertrag unterzeichnet, was von einem Großteil des chilenischen Militärs scharf angegriffen worden ist. Vor allem die Anerkennung von Territorialansprüchen Argentiniens in einer Zone, die bezeichnenderweise „Wüstensee“ heißt und wo sich nicht einmal Fuchs und Hase Gute Nacht sagen, hat den Unmut der Patrioten hervorgerufen. Chile beansprucht den gleichen Zipfel der Antarktis wie Argentinien und unterhält zur Untermauerung dieses Anspruches dort eine Base.

In solchen Gebärden ist sowohl der Machtanspruch als auch die Zweitrangigkeit eines Staates wie Chile zu erkennen. Imperiale Gelüste hätte es wohl, wie seine Nachbarn auch, und auch Landstriche, mit denen es eingestandenermaßen nichts anzufangen wüßte, wären ihm recht, um sein bloßes Territorium auf Kosten der Nachbarn auszudehnen.

Aber solches ist andererseits nicht gestattet.

Die bestimmenden Mächte der Welt verbieten „eigenmächtige“ Grenzkorrekturen bei ihren Geschöpfen – wenn schon, dann nehmen sie sie selber vor. Das ist dann auch gleich der Ausweis ihrer Rechtmäßigkeit. Lange bevor Saddam Hussein für seinen Fehltritt eins auf den Deckel gekriegt hat, ist der Nachbar Chiles im Falkland-Krieg an diese unumstößliche Wahrheit erinnert worden. Deswegen gibt aber so ein Staat sein Anliegen nicht einfach auf. Er hebt es auf, pflegt es hin und wieder mit diplomatischen Affronts und demonstrativen Manövern – und wartet, ob nicht doch einmal ein geeigneter Augenblick kommt, in dem ihm ein Einmarsch, eine Annexion vielleicht gestattet wird.

Immerhin gibt es Vorbilder: Ein Staat wie Israel hat damit schließlich auch Erfolg gehabt.

 

5. Die politische Moral in Chile

Die heutige demokratische Regierung arbeitet sich an einer Art Vergangenheitsbewältigung ab, ist dabei aber gleichzeitig von dem Bewußtsein erfüllt, daß diese nicht zu weit gehen darf. Ein zur Rechenschaft-Ziehen der ehemaligen Folterknechte und Mörder, womöglich sogar ihrer Auftraggeber ist nicht gestattet.

Die Betroffenen sollen sich damit zufriedengeben, daß sie wenigstens darüber reden dürfen.

Die Angehörigen vieler „Verschwundener“ – ermordeter Verhafteter, deren Leichen nie aufgefunden wurden – bestürmen die Gerichte, um wenigstens die sterblichen Überreste der Opfer ausgehändigt zu bekommen. Bei manchen ist der Ort, wo sie eingegraben wurden, sogar bekannt, aber die Armee beruft sich darauf, daß es sich dabei um militärisches Sperrgebiet handelt, zu dem Zivilen unter keinerlei Umständen Zugang gewährt werden kann.

Gleichzeitig wurde einer der wichtigsten Männer der Putschisten-Junta von 1973 und der erste von ihnen, der ins Gras gebissen hat, Carvajal, mit allem Pomp zu Grabe getragen. Pinochet hat Anfang Juli dieses Jahres dem amerikanischen Sender CNN ein Interview gegeben, in dem er gefragt wurde, was er dazu sage, daß in seiner Regierungszeit 2.000 politische Häftlinge verschwunden seien. Der Oberbefehlshaber des Heeres hat geantwortet, bei einer Bevölkerung von 12 Millionen sei das doch nicht viel. Auf die Frage, ob er seine Position nicht als eine Gefährdung der Demokratie in Chile ansehe, hat Pinochet ehrlich erstaunt gemeint, nein, keineswegs, warum sollte er das sein?

Der Mann hat natürlich völlig recht. Er ist es schließlich, der die Demokratie in Chile erst ermöglicht hat, indem er mit seinesgleichen vorher dafür gesorgt hat, daß die solchermaßen gewährten politischen Freiheiten nicht mißbraucht werden können. Heute garantiert er durch seine Stellung dafür, daß gewisse unumstößliche Grundlagen der politischen Betätigung nicht in Vergessenheit geraten: Die Interessen des ausländischen Kapitals haben jedem chilenischen Politiker heilig zu sein. Die Rute steht nicht nur für die paar übriggebliebenen Kommunisten und Sozialdemokraten im Fenster, sondern auch für die regierenden Christdemokraten. Schließlich sind die Nationalisierungs- und andere Gesetze Allendes seinerzeit mit Unterstützung eines Teils der DC beschlossen worden.

Die zivilen Politiker Chiles geben auch bei jeder Gelegenheit zu Protokoll, daß sie keineswegs den Irrungen der Volksfrontregierung erliegen. Der Senatspräsident Gabriel Valdés, der nicht versäumt zu betonen, daß er selbst unter der Militärregierung verfolgt worden war und sogar zweimal im Häfn gesessen ist, hat für die Allende-Regierung kein freundliches Wort übrig:

„Die extreme Linke hat ungeheures Unheil über Lateinamerika gebracht. Sie ist für die Diktaturen Uruguays, Argentiniens und Chiles verantwortlich. Wenn Allende auch ein wirklicher Demokrat war, so ließ er sich doch von den extremistischen Castro-Anhängern zu schweren Irrtümern in der Führung des Landes verleiten. Diese wollten alles umstürzen. Bis zu dem Moment, in dem die Militärs „Schluß“ sagten. Und damals stand das ganze Land hinter ihnen. Die Resultate sind bekannt. Wir wollen heute eine Rückkehr zur Demokratie ohne Rache und ohne Gewalt.“ (5)

Ein netter Kunstgriff, die Opfer der Repression zu den eigentlichen Tätern zu erklären, auf die das Militär nur quasi als Sachzwang reagiert hätte. Damit sind die Toten noch einmal ins Unrecht gesetzt, die Militärs erhalten eine Generalabsolution: Sie waren eigentlich die echten Vertreter des Volkes, während die anderen sich diese Rolle nur angemaßt hätten. Daß dort, wo gehobelt wird, auch Späne fliegen, versteht Señor Valdés selbstverständlich, wobei er vermutlich unter den „Spänen“ die Tasache versteht, daß sogar ein aufrechter Demokrat wie er verfolgt worden ist.

Wo Betroffene des Staatsterrors zu Wort kommen, wird ihnen sofort bedeutet, daß dies eigentlich ein unverdienter Gnadenakt ist. Ein ehemaliges Mitglied des MIR (Bewegung der revolutionären Linken) muß sich im Fernsehen mehr oder weniger als Dinosaurier, der ins heutige Chile gar nicht mehr hineinpaßt, behandeln lassen: „Zahlt es sich überhaupt aus, zu überleben?“

Selbst wenn der Bischof von Santiago an das Militär appelliert, doch die eine oder andere Leiche endlich herauszugeben, so tut er es in der Überzeugung, daß tote Kommunisten gute Kommunisten sind, denen man ein christliches Begräbnis nicht verweigern sollte. Die Opfer von Pinochet & Co. können nur mit Mitleid rechnen, solange sie sich als betroffene Privatpersonen vorführen lassen, die ihre politischen Ambitionen längst aufgegeben haben. Als arme Verirrte, die für ihren jugendlichen Überschwang teuer bezahlt haben.

Der chilenische Geheimdienst DINA hat Akte gesetzt, die klar die Souveränität anderer Staaten verletzt haben und die bei Ländern, die den USA nicht genehm sind, sofort das Verdikt des Staatsterrorismus nach sich sich gezogen hätten. Chile durfte und darf sich das erlauben. Ein Beispiel: Die Männer, die den spanischen Diplomaten Carmelo Soria in den 70er Jahren in Santiago ermordet haben, sind namentlich bekannt, aber Chile plant nicht, sie zu Verantwortung zu ziehen. Die Behörden berufen sich auf die Verfassung, derzufolge der Kronzeuge, der von den USA geschützte Ex-DINA-Killer Michael Townley, wegen der Immunität, die er in den USA genießt, nicht glaubwürdig sei. Auch die Intervention des spanischen Außenministers hat an dieser Haltung nichts geändert.

Das wäre ja noch schöner, wenn die Leute, die seinerzeit das Vaterland vor der roten Gefahr geschützt haben, jetzt dafür bestraft würden! Im Gegenteil, sie können gar nicht genug für ihren selbstlosen Einsatz geehrt werden. Pinochet, dieser Henker von Gnaden des CIA, wird noch als Retter des Vaterlandes in die Geschichtsschreibung eingehen, der in schwerer Zeit nicht davor zurückgeschreckt hat, das Richtige zu tun. Er steht als schönes Beispiel für die Tatsache, daß Demokratie am besten dort gedeiht, wo vorher ein ordentlicher Faschismus mit unzuverlässigen Elementen aufgeräumt hat. Und in diesem – von Herrn Valdés exemplarisch vorgeführten – versöhnenden Sinne des „Lassen wir die Vergangenheit ruhen“ plätschert die Innenpolitik Chiles friedlich dahin und befaßt sich mit Fragen der folgenden Art: Soll die Abtreibung streng oder noch strenger bestraft werden? Darf der mit der Repression der vergangenen Jahrzehnte befaßte Polizeichef ins Ausland reisen, oder schadet das dem Ruf Chiles? Einführung der Scheidung oder Beibehaltung des bisherigen Systems der Annullierung der Ehe? Was hat die Ethik-Kommission in diesem Monat herausgebracht?
usw.

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Fußnoten:

(1) Alle nicht ausdrücklich nachgewiesenen Daten und Informationen in diesem Artikel stammen aus den chilenischen Tageszeitungen „El Mercurio“, „La Época“ und aus dem chilenischen Fernsehen im Monat Juli ’94.

(2) La Época, 30. 7. 1994

(3) Alle Zitate aus: La Época, 17. 7. 1994

(4) Alle Zitate zum Pensionssystem: Matt Moffett, Redakteur des Wall Street Journal, in: „La Nación“ (Argentinische Tageszeitung), 22. 8. 1994

(5) La Época, 2. 8. 94

 

(Erschienen in: FORVM, Dezember 1994)

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