VORWORT Probleme eines Moralisten Nietzsche gilt bis heute zumeist als Gegner der Moral, zumindest als einer ihrer schärfsten Kritiker. Das ist insofern verwunderlich, als diese Einschätzung nur die eine Hälfte seines Anliegens erfaßt, und zwar die begrifflich nachgeordnete. Nietzsche war sowohl seinem Anspruch als auch seinen Ausführungen nach ein Anhänger von Moral; Tugend und Sittlichkeit waren für ihn Werte, nach denen jeder streben sollte – schon um „seiner selbst“ willen: Nietzsche propagiert eine Moral im Dienste des Lebens, und er greift die vorgefundene Moral dort an, wo sie ihm gegen diese Bestimmung zu verstoßen scheint. Er formuliert das so: „Ich bringe ein Prinzip in Formel. Jeder Naturalismus in der Moral, das heißt jede gesunde Moral ist von einem Instinkte des Lebens beherrscht, – irgend ein Gebot des Lebens wird mit einem bestimmten Kanon von »Soll« und »Soll nicht« erfüllt, irgend eine Hemmung und Feindseligkeit auf dem Wege des Lebens wird damit bei Seite geschafft. Die widernatürliche Moral, das heißt fast jede Moral, die bisher gelehrt, verehrt und gepredigt worden ist, wendet sich umgekehrt gerade gegen die Instinkte des Lebens, – sie ist eine bald heimliche, bald laute und freche Verurteilung dieser Instinkte.“ (1) Was es heißt, dem Leben Gebote zuzuschreiben und Natürlichkeit mit Gesundheit gleichzusetzen, wird an anderer Stelle von mir ausgeführt. Hier soll zunächst nur angemerkt werden: Nietzsche verwendet nicht vielleicht nur ein falsches Wort für „Wohlbefinden“, wenn er von Moral spricht. Seine „Moral im Dienste des Lebens“ ist etwas anderes als ein Programm zur Befriedigung von Bedürfnissen, sie ist auch etwas anderes als eine Kritik von Interessen, die dem Individuum vielleicht schaden könnten. Sie ist vielmehr ein „Soll“, eine Regel, der das Individuum sich unterwerfen soll. „Wohlbefinden, wie ihr es versteht – das ist uns ja kein Ziel, das scheint uns ein Ende! Ein Zustand, welcher den Menschen alsbald lächerlich und verächtlich macht, – der seinen Untergang wünschen macht! Die Zucht des Leidens, des großen Leidens – wißt ihr nicht, daß nur diese Zucht alle Erhöhungen des Menschen bisher geschaffen hat?“ (2) Was möchte Nietzsche also, und was greift er an, wenn er Wohlbefinden als Ende charakterisiert? „Es bedürfte zu jenem Ziele einer anderen Art Geister, als gerade in diesem Zeitalter wahrscheinlich sind: Geister, durch Kriege und Siege gekräftigt, denen die Eroberung, das Abenteuer, die Gefahr, der Schmerz sogar zum Bedürfnis geworden ist ... Aber irgendwann, in einer stärkeren Zeit, als diese morsche selbstzweiflerische Gegenwart ist, muß er uns doch kommen, der erlösende Mensch der großen Liebe und Verachtung, der schöpferische Geist, ... “ (3) Nietzsches Sympathie gilt den „Starken“, den „Großen“, denen, die sich über die kleinlichen Sorgen, die Durchschnittlichkeit ihrer Mitmenschen hinwegsetzen. Ihr Tun ist zunächst rein (logisch) negativ bestimmt. Es lautet: Rücksichtslosigkeit – gegenüber den anderen, den herrschenden Moralvorstellungen, gegenüber allen wirklichen und eingebildeten Schranken. Sein Menschenideal hat verschiedene Namen: „Freie Geister“, „Dionysische Naturen“, „Übermensch“, „Zarathustra“ ... Wenn er in der Geschichte nach Repräsentanten seines Ideals sucht, so fördert er meist Individuen zutage, die sich durch Kriegshandlungen ausgezeichnet haben: Alexander der Große, Napoleon, Bismarck. Er geht sogar so weit, die einfachen Soldaten als Menschen höherer Art zu preisen – also ausgerechnet solche Individuen, die überhaupt keine eigenen Zwecke mehr haben, sondern nur mehr das Werkzeug übergeordneter Gewalten sind. (Zur Bedeutung des Krieges für Nietzsche ebenfalls an anderer Stelle.) Diese unterschiedlichen Personen erfüllen Nietzsches Ideal dadurch, daß sie Helden sind (oder zumindest von ihm für solche erklärt werden). Der Standpunkt der Hingabe, den der Held einnimmt, ist nur bei radikalen Moralisten anzutreffen. Der Held ist eine Art von Mensch, für den alles Pflicht ist – auch wenn es überhaupt keine Instanz gibt, die sie ihm auferlegt hätte. Er verpflichtet sich selbst um so strenger auf seine Aufgabe, sein Ideal, und ordnet sein gesamtes Tun und Lassen dem unter. Einem solchen Menschen ist kein Opfer schwer genug, er opfert bedenkenlos alles, Hab und Gut, Gesundheit, seine Nächsten, auch sein Leben: Die Fortsetzung des Helden ist der Märtyrer: Er lebt nicht nur für seine Sache, sondern stirbt auch dafür. Und jetzt wird es schwierig. Solche Gestalten (Helden) gedeihen zwar nur auf der Grundlage moralischen Denkens, aber sie gedeihen nicht notwendig darauf. Das ist das Problem Nietzsches: Sogar innermoralisch, also dort, wo der Wille schon seine äußeren Beschränkungen völlig verinnerlicht hat, ist er immer noch so frei, diese seinige Unterwerfung individuell auszugestalten und seine Charakterstärke in der Befolgung derjenigen Tugenden zu zeigen, die ihm dafür geeignet scheinen. Es liegt also im Belieben des Moralisten, sich aus dem vorgefundenen Tugendkatalog das auszusuchen, was ihm gerade paßt, bzw. auch einmal etwas auszuwechseln, wenn man etwas Geeigneteres gefunden hat. Auch die Ernsthaftigkeit, mit der das Individuum seinen Moralismus betätigt, und das Maß an Heuchelei, das es sich dabei gestattet, wird ausschließlich von ihm selbst bestimmt. Das gilt zunächst auch für vorbürgerliche Moral. „ ...wer ... hier“ (bei der Frage nach dem Wert des Mitleids) „fragen lernt, dem wird es gehen, wie es mir ergangen ist: – eine ungeheure neue Aussicht tut sich ihm auf, eine Möglichkeit faßt ihn wie ein Schwindel, jede Art Mißtrauen, Argwohn, Furcht springt hervor, der Glaube an die Moral, an alle Moral wankt – “ (4) Dieser Zweifel wird von ihm als so ziemlich das Schlimmste, was einem Menschen, d.h., einem Moralphilosophen, geschehen kann, beschrieben. Er hat ihn gut überstanden, ihn nicht zum Anlaß genommen, an seinem Welt- und Menschenbild irre zu werden, sondern flott auf dem einmal eingeschlagenen Weg weitergemacht. Seine Methode ist einfach und auch sehr gebräuchlich, (sie läßt sich auf jeden Gegenstand anwenden): Er errichtet sich ein Ideal von Moral und mißt daran die vorgefundene, die ringsum gebräuchliche praktizierte Moral. Was dabei von seinem Ideal abweicht, ist für ihn ein Mangel, den es auszuräumen gilt; was dem Ideal entspricht, ist ihm ein Beweis dafür, daß sein Ideal Realität hat, gilt, und daß daher seiner Verwirklichung nichts im Wege steht. HEGEL hat diesen Idealismus im Denken den „Maßstab des Sollens“ genannt und wie folgt charakterisiert: „Aber die Abtrennung der Wirklichkeit von der Idee ist besonders bei dem Verstande beliebt, der die Träume seiner Abstraktionen für etwas Wahrhaftes hält und auf das Sollen, das er vornehmlich auch im politischen Felde gern vorschreibt, eitel ist, als ob die Welt auf ihn gewartet hätte, um zu erfahren, wie sie sein solle, aber nicht sei; wäre sie, wie sie sein soll, wo bliebe da die Altklugheit seines Sollens?“ (5) Wer so vorgeht, ist natürlich immer sehr unzufrieden darüber, daß nichts so ist, wie es sein sollte. Er ist selbstverständlich auf der anderen Seite immer sehr stolz darauf, daß er immerhin weiß, wie es eigentlich gehören würde – zum Unterschied von allen anderen, die in ihrer Gewöhnlichkeit gar keinen Gedanken darauf verschwenden. (Geheimnis am Rande: Die anderen machen es im allgemeinen genauso.) Was übrig bleibt, ist, wie schon HEGEL zu Recht bemerkte, Eitelkeit und Besserwisserei – das ständige Nicht-Übereinstimmen von Anspruch und Wirklichkeit empfindet der Idealist als persönliche Zurückweisung, als mangelnde Achtung vor der eigenen Person, der eigenen Bedeutsamkeit. Das nietzscheanische „Leiden an der Welt“ und „an seiner Zeit“, das von seinen Biographen und Rezensenten oft genug breitgetreten wird, hat hierin seinen Grund und ist nicht Gegenstand dieser Arbeit. ____________________ *1 Nachahmung findet nicht statt, denn beim bürgerlichen Moralisten sind immer beide Maßstäbe vorhanden, jeder für sich allein würde seinen Vertreter schlecht aussehen lassen. Daß Moral allein nämlich kein Mittel des Durch- bzw. Weiterkommens ist, erfährt jeder praktisch: Entweder er investiert sein Kapital oder er liefert seine Arbeitsleistung ab, macht sich also für andere nützlich. Von der Moral wird kaum einer satt, nur Geistliche und Psychologen bestreiten davon ihren Lebensunterhalt – allerdings von der Moralität anderer. Andererseits: Daß man dadurch, daß man um 5 Uhr erschöpft von der Arbeit nach Hause kommt, noch genausowenig ein anständiger Mensch ist wie wenn man gerade wieder ein gelungenes Geschäft getätigt und einen schönen Profit an Land gezogen hat, ist auch jedem klar. Selbstverständlich ist es nicht, daß Zwang moralisch macht – er kann genausogut rebellisch machen. Daß Moral ausschließlich eine freiwillige Zusatzveranstaltung zu den alltäglichen Pflichten ist, ist unterstellt – und gleichzeitig bestritten! – wenn sie allerorten mit „Man kann doch nicht“ und „Man sollte doch ...“ eingefordert wird. Wer aber in einer Gesellschaft, in der für die meisten nur Schaden vorgesehen ist, seinen Nutzen sehen will, muß eben sich dieser ganzen geistigen Verrenkungen, die die Moralität ausmachen, bedienen.
__________________________________________________ 1. Götzendämmerung, 6/85 2. Jenseits von Gut und Böse, 5/161 3. Zur Genealogie der Moral, 5/336 4. “ - “ - “ - “ 5/253 5. HEGEL, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I, Suhrkamp tw, Werke Band 8/48
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